Nachtkrieger: Unendliche Sehnsucht: Roman (Knaur TB) (German Edition)
Zuneigung zwischen Mary und Raffin wurde von allen wohlwollend betrachtet, auch wenn keiner der beiden es zugeben wollte. Die Heirat der beiden war längst beschlossene Sache, um das Vermögen der Ferrers durch das der Nevilles, zu deren Erben Mary ja gehörte, zu konsolidieren. Der König persönlich hatte diese Verbindung gefördert, um dem Neville-Beaufort-Bündnis eine weitere Gefälligkeit zu erweisen. Und da Mary und Raffin von vollkommen verschiedenen Eltern stammten, hatte auch die Kirche nichts gegen die Verbindung einzuwenden. Doch das hatte sie ohnehin nur selten, wenn es um Vermögen ging – eine Tatsache, die Eleanor nur allzu schmerzlich bezeugen konnte. Immerhin würde Mary ihren Ehemann mögen. »Nun geh schon. Du kannst das Publikum spielen und ihnen zujubeln.«
»Ich glaube, das wäre eine gute Idee für uns alle, denn hier haben wir ohnehin keine Ruhe.« Der Eifer, mit dem Mary aufstand, strafte ihr angeblich mangelndes Interesse Lügen. »Kommt alle mit!«
Lucy und die anderen standen ebenfalls auf, Eleanor jedoch blieb sitzen. »Geht ihr nur, ich will das hier noch fertig machen.« Sei hielt den goldgelb schimmernden Kranz aus Löwenzahn in die Höhe, den sie geflochten hatte. »Sagt ihnen, der Sieger wird eine goldene Krone bekommen.«
Alle machten sich auf den Weg, bis auf Lucy, die wieder umkehrte und begann, Blumen für einen Strauß zu pflücken.
»Was machst du denn da?«
»Hier bei Euch bleiben?«
Eleanor war hin- und hergerissen. Sie konnte die Gelegenheit nutzen, um Lucy auszufragen, oder sie zu Henry und den anderen schicken – wo es Lucy offenbar eher hinzog, wenn all die Seitenblicke etwas zu bedeuten hatten. Ach, am Abend wäre noch genügend Zeit. »Du brauchst nicht bei mir zu bleiben. Geh nur! Amüsier dich ein wenig.«
»Soll ich Euch denn ganz allein hierlassen?«
»Allein werde ich wohl kaum sein, auf einer Wiese voller Leute. Du wirst nicht einmal außerhalb meiner Sichtweite sein.«
»Aber …«
Eleanor wedelte mit der Hand. »Nun mach schon. Geh!«
»Jawohl, Mylady.« Lucy stieß einen Seufzer aus, der klang, als wolle sie doch lieber bleiben, dann lief sie hinter den anderen her, um sie einzuholen.
Offenbar war Lucy ebenso verwirrt über alles, was zwischen ihr und Henry geschehen war, wie Eleanor. Glücklicherweise schien Henry selbst alles andere als verwirrt. Er begrüßte Lucy mit einem breiten Grinsen, als sie hinter Mary am anderen Ende der Lichtung erschien.
Zufrieden, weil sie das Richtige getan hatte, machte sich Eleanor rasch daran, die übrigen gelben Löwenzahnblüten zu flechten. Dann legte sie den fertigen Kranz beiseite und lehnte sich zurück, um den Moment der Stille zu genießen.
Eingelullt von der sonnengewärmten Decke, dem leisen Summen der Bienen an den Blüten und vom Wein, war sie bald kurz davor, einzuschlafen, und ihre Gedanken trieben ziellos dahin, bis sie zu einem Traum wurden. Ein seltsames Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit, aber nicht genug, um sie aufzuwecken, und in ihrem Traum kroch Carolus aus einem Bienenkorb hervor und begann erneut, die Geschichte von dem Stier, der sich in ein Mädchen verliebt hatte, zu erzählen.
Abermals ertönte das seltsame Geräusch, lauter dieses Mal – es klang wie ein gedämpftes Schnuppern –, und lenkte sie von der Geschichte ab. Träge drehte sie den Kopf auf die rechte Seite und öffnete blinzelnd ein Auge.
Ein Stier – der aus der Geschichte, dessen war sie sich sicher – stand im Schatten des Waldrands, kaum ein Dutzend lange Schritte weit entfernt, und betrachtete sie. Eleanor lächelte im Traum, weil alles so klar und deutlich schien. Dann setzte sie sich auf, um besser sehen zu können.
Es war ein imposantes Tier, mit kräftigem Kopf und breiter, muskulöser Brust und ein paar rötlichen Strähnen in seinem lockigen strohblonden Fell. Es wäre ein furchteinflößender Anblick gewesen, aber es war ja nur ein Traum, sonst hätte Lucy sicher längst geschrien, und außerdem konnte sie noch immer Carolus’ beruhigende Stimme hören. Geborgen in diesem sicheren Wissen, nahm sie den Blumenkranz, den sie für den Sieger geflochten hatte, und stand auf.
Sanft. Von Adel. Ein verwandelter Gott. Carolus’ Worte geleiteten sie in den Schatten und direkt hin zu dem Stier, dem sie vorsichtig den Kranz über eines seiner spitzen Hörner hängte. Das Tier senkte den Kopf, als wolle es sich vor ihr verneigen, und die Bewegung gab den Blick frei auf seinen Widerrist und grausame
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