Nachtkrieger
Ivo schloss sich ihren Wünschen an und fügte hinzu: »Um den Adler werde ich mich selbst kümmern.«
Lord Robert zögerte, doch dann sagte er lächelnd: »Und ich werde dem König so bald als möglich Euren Gruß ausrichten. Da fällt mir ein: Ich habe noch etwas für Euch.« Er entnahm seinem Lederbeutel einen bronzenen Schlüssel. »Die Schatulle befindet sich in Eurer Schatzkammer, zu der, wenn ich mich nicht irre, Eure Gemahlin den Schlüssel hat. Ich werde meine Wache natürlich abziehen.«
Die beiden Männer nickten sich noch einmal zu, und Lord Robert ging die Treppe hinunter. Unten angekommen, lautete seine erste Frage: »Wo steckt fitz Hubert?«
Sir Wakelin ließ seinen Blick durch die Halle schweifen. »Ich sehe ihn nirgends, My Lord.« Er wies auf Brand und fügte hinzu: »Er stand die ganze Zeit neben Lord Ivos Hünen hier.«
»Neben mir?«, fragte Brand und tippte sich gegen die Brust, als sei er nicht sicher, ob Wakelin tatsächlich ihn meinte. Er sah sich suchend um. »Ach, Ihr sprecht von Neville. Der ist gegangen. Ihm schien nicht ganz wohl zu sein.«
»Findet ihn!«, bellte Lord Robert und schritt voraus, dicht gefolgt von seinen Rittern.
Brand sah grinsend hinauf zu Ivo. »Vielleicht sollte ich mich an der Suche beteiligen.«
»Nimm Oswald mit – und alle, die ebenfalls Spaß daran haben.«
Im Nu war die halbe Halle draußen. Diejenigen, die geblieben waren, sahen lachend zu Ivo und Alaida hinauf und warteten, was als Nächstes kommen würde.
»Was hat Brand ihm wohl gesagt?«, fragte Alaida leise.
»Vermutlich, dass er aus seinen Eingeweiden einen Gürtel flechten wird oder etwas in der Art«, gab Ivo ebenso leise zurück. Dann sagte er laut: »Geoffrey, in Lesbury wird man nicht auf derart viele Gäste eingerichtet sein. Gebt Lord Robert und seinen Männern so viel Brot mit, dass es bis nach Bamburgh reicht.« Er drehte Alaida zu sich herum. »Und nun zu dir, Frau. Du hast dich mit einer halben Halle voll bewaffneter Männer angelegt, und das wegen eines Vogels.«
»Es geht nicht um irgendeinen Vogel, My Lord. Es geht um meinen Adler. Er kam mir zu Hilfe, und dafür wollte ich mich erkenntlich zeigen.«
Ivo hob kaum merklich die Augenbrauen und sagte ein wenig sanfter: »Entweder du bist vollkommen verrückt oder sehr mutig.«
»So mutig nun auch wieder nicht, My Lord.« Sie streckte die Hände aus, und als er sah, dass sie zitterten, fügte sie hinzu: »Es will gar nicht mehr aufhören.«
Er umschloss ihre Finger mit beiden Händen. »Auch Krieger zittern nach einer Schlacht. Aber dagegen weiß ich etwas«, sagte er und schloss sie in seine Arme.
»Wir werden beobachtet, My Lord«, erinnerte sie ihn.
»Die Leute sollen ruhig etwas lernen«, antwortete er und küsste sie. Dieses Mal war sein Kuss voller Inbrunst, ebenso wie der Jubel, der aus der Halle heraufschallte. Alaida ging das Herz auf. Vielleicht war das der Neubeginn, den sie sich erhofft hatte.
Als sie am nächsten Morgen in aller Frühe erwachte, musste sie einsehen, dass ihre Hoffnung vergeblich war. Allein gelassen lag sie in der Dunkelheit, lauschte Ivos leiser werdenden Schritten und kämpfte gegen die Tränen, die ihr in die Augen stiegen. Als sie aus der Ferne hörte, wie er der Wache befahl, das Tor zu öffnen, ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
Alaida schluchzte hemmungslos wie nie zuvor, und bald war ihr Kopfkissen vollkommen durchnässt. Nicht einmal beim Tod ihrer Mutter hatte sie so bitterlich geweint. Sie weinte, bis ihr die Augen brannten und ihr Mund vollkommen ausgetrocknet war, bis sie keine Tränen mehr hatte und ihre Laken sich kalt anfühlten vor Nässe.
Sie rutschte hinüber auf die trockene Seite, setzte sich auf die Bettkante und bekam vor lauter Schluchzen einen Schluckauf. Wie konnte sie nur so dumm sein, sich die Augen auszuweinen wegen eines Mannes, der sie gar nicht wollte.
Aber Ivo
wollte
sie doch. Deshalb schien ihr sein Verhalten umso unbegreiflicher. Manchmal sah er sie voller Sehnsucht an, so dass sie seinen Schmerz ebenso fühlen konnte wie ihren eigenen. Sie spürte seine Erregung, wenn er sie in die Arme nahm. Doch jedes Mal, wenn er sich zu ihr legte und sie sich ihm nähern wollte oder sie versuchte, ihn dazu zu bringen, sie zu berühren, fand er einen fadenscheinigen Vorwand, um es zu verhindern. Dann sagte er ihr, sie solle einschlafen, obwohl sie spürte, wie sehr er sich beherrschen musste. Großer Gott, warum wollte er nicht, dass sie ihn wollte? Alaida schluckte
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