Nachtkuss - Howard, L: Nachtkuss - Burn
aufhielt.
Plötzlich ging ihr ein Licht auf. Er wollte gesehen werden. Genauer gesagt wollte er mit ihr gesehen werden. Die anderen sollten sie als Paar wahrnehmen, und sie hatte versprochen zu kooperieren.
»Gehen wir spazieren.« Sie stand auf und streckte ihm
die Hand hin. »Ich könnte ein bisschen Bewegung gebrauchen, nachdem ich bis heute Morgen so angebunden war.«
Sein blauäugiger Blick peitschte über sie hinweg, dann nahm er ihre Hand, stand auf und schlang dann die andere Hand um ihre Taille, um sie zur Reling zu drehen. »Du lebst gefährlich, Jenner Redwine«, murmelte er so leise, dass nur sie ihn hören konnte.
Sie lächelte und sah zu ihm auf, als würde sie mit ihm flirten. »Entspann dich, mein Großer.« Sie antwortete genauso leise. »Bis auf einen hältst du immer noch alle Trümpfe in der Hand. Wir gehen ein bisschen spazieren, und du kannst die Gelegenheit nutzen, um allen zu zeigen, wie verrückt wir nacheinander sind.«
Sie hätte gedacht, dass er sie in ihren Liegestuhl zurückziehen würde, aber er blickte scheinbar versonnen aufs Meer, und dann sah sie ein Lächeln um seine Mundwinkel zucken. Offenbar hatte er nicht erwartet, dass sie so kooperativ sein würde. Schon der Anflug eines Lächelns veränderte sein Gesicht kolossal. Einen winzigen Augenblick lang drohte Jenner zu vergessen, dass er ein skrupelloser Entführer war. Im nächsten Moment hatte sie sich innerlich zur Ordnung gerufen. Sobald Syd frei war, würde sie ihn ohne zu zögern über die Reling stoßen!
Seinen Arm an ihrer Taille, spazierten sie an der Reling entlang. Jenner hob das Gesicht der Sonne entgegen und versuchte die Kraft aufzubringen, ihre Gedanken zu vertreiben und sich einen Moment zu entspannen. Dies war der erste volle Tag ihrer zweiwöchigen Kreuzfahrt; sie würde noch dreizehn Tage mit Cael verbringen müssen, und wenn sie nicht lernte, mit dem Stress umzugehen, würde sie daran zerbrechen. Sie würde jeden Tag mit Syd telefonieren, und dabei konnten sich beide vergewissern,
dass die jeweils andere noch lebte. Deshalb musste sie aufhören, sich ununterbrochen mit ihrer prekären Lage zu beschäftigen.
Widerstrebend ließ sie ihren Blick über das Schiff wandern. Seit sie gestern Nachmittag an Bord gegangen war, war sie viel zu verängstigt gewesen, als dass sie ihre Umgebung wahrgenommen hätte. Angeblich war die Silver Mist eine Perle unter den Kreuzfahrtschiffen, und sie wollte sich das nicht entgehen lassen.
Wie Bridget ihr erklärt hatte, war das Lidodeck das Unterhaltungsdeck. Hier versammelten sich die Passagiere rund um die Pools, und auf jedem freien Fleck stand ein Deckchair aus Teakholz. Am Rand des einen Pools wurde ein Spiel veranstaltet, und die Soundanlage verstärkte die Stimme des Animateurs auf fast schmerzhafte Lautstärke. Cael verzog das Gesicht und drehte Jenner in die andere Richtung, und ausnahmsweise hatte Jenner nichts dagegen, seinen unausgesprochenen Anweisungen zu folgen.
Wäre Cael nicht gewesen, dachte sie, hätte Syd ganz recht gehabt: Dann hätte sie sich auf dieser Kreuzfahrt bestimmt gut amüsiert. Sie liebte den Ozean. Im Lauf der vergangenen sieben Jahre hatte sie sich an das Meer gewöhnt, aber das Graugrün des Atlantik war nicht mit den strahlenden Farben des Pazifik zu vergleichen. Das tiefe Wasser leuchtete in einem unglaublichen Marineblau, in dem sie, wenn das Licht wechselte, hin und wieder Spuren von Türkis und Aquamarin entdeckte. Nachdem nirgendwo Land zu sehen war, hatte sie das Gefühl, allein auf einer strahlend schönen, funkelnagelneuen Stadt über das Meer zu treiben, soweit man inmitten von tausend anderen Menschen von »allein« reden konnte.
Sie konnte tatsächlich riechen, wie neu das Schiff war. Alles roch neu: die Farbe, die Teppiche, die Polster, selbst
das Holz auf dem Deck. Alles war neu und frisch, und unter anderen Umständen wäre sie begeistert gewesen.
Caels Arm lag immer noch um ihre Taille und ermahnte sie mit sanftem Druck, sich anständig zu benehmen. Natürlich würden sie auf jeden ahnungslosen Beobachter wie ein frisch verliebtes Paar wirken, das vollauf damit beschäftigt war, die neuen und aufregenden Gefühle zu erforschen, die sie beide ergriffen hatten. Niemand außer Jenner ahnte, dass sein Griff ein bisschen zu fest war, und das ließ sie entnervt seufzen. Wohin hätte sie denn fliehen sollen? Sie konnte schließlich schlecht ein Rettungsboot kapern und damit verschwinden. Außerdem hatten sie Syd in ihrer Gewalt,
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