Nachtmahl im Paradies
an ihm erblühte, schienen ihr zuzurufen: » Carpe diem – nutze den Tag!«
Auch Jacques beschloss, die Magie dieses herrlichen Tages zu nutzen, um sich der Kreation einer aufregenden neuen Speisekarte zu widmen. Wenn das Paris im zweiten Anlauf noch eine Chance bekommen sollte, dann musste dieser Anlauf perfekt vorbereitet sein. Es war um einiges später als geplant, als er endlich dazu kam, sich dem Vorhaben zu widmen, dem er den ganzen Tag entgegengefiebert hatte. Seine Hände zitterten vor Aufregung, als er das rote Büchlein aufschlug, um darin das zweite Liebesrezept zu lesen, das Elli sich für ihn ausgedacht hatte – vor so langer Zeit. Es handelte sich um eine weitere Vorspeise, und wieder spürte er, wie eine unbändige Lust aufs Kochen, auf die perfekte Zubereitung dieses kleinen Geschmackswunders in ihn zurückkehrte, als hätte Patrice sie ihm geradewegs mit einer Spritze injiziert.
»Das höchste Glück auf Erden?
Bei einem Liebesmahl zwei Perlen:
eine im feuchten Schoß der Meeresfrüchte –
und eine vis-à-vis, am Tisch,
im warmen Abendlichte.«
AUGUSTE DIDEROT
PHILOSOPH
Venusmuscheln im Spinatbett
Man nehme:
1 Kilogramm Venusmuscheln, 200 Gramm frischen Spinat, 150 Gramm Passepierre-Algen, 2 gewürfelte Schalotten, Meersalz, Pfeffer, 1 Knoblauchzehe, etwas Olivenöl, 200 Milliliter Weißwein, 3 bis 5 Safranfäden und 1 Esslöffel saure Sahne
Während Jacques sich daranmachte, die kalkig raue Oberfläche der Muscheln sorgfältig abzubürsten und zu waschen, blickte er aus dem Fenster auf die hinter dem Paris liegenden Weiden. Nach vorne zum Restaurant hin war die Küche durch eine Glasscheibe auf halber Höhe getrennt, damit die Gäste verfolgen konnten, was hier passierte. Diese Scheibe war Ellis letzte Errungenschaft gewesen, bevor sie sich für immer von ihm, Jacques, dem Küchenchef des Paris , und ihren gemeinsamen Gästen verabschiedet hatte. Nach hinten hinaus blickte man ebenfalls durch ein großes Panoramafenster, das sie bei der Gelegenheit gleich mit eingezogen hatten. Damit war die Küche kein in sich abgeschottetes, in ein ewiges Kunstlicht getauchtes Gefängnis für die hier tätigen Sklaven und Sklaventreiber in Weiß. Sie war vielmehr ein lichter, halb offener Raum zwischen den Gästen auf der touristischen Schokoladenseite, die auf den Atlantik hinausführte, und dem ganzjährigen frischen Grün der Natur hinter dem Haus, dessen lieblichen Anblick er und Elli mindestens genauso genossen hatten.
An frühen Sommerabenden wie diesem war sie oft barfuß in nichts als einem dünnen Kleidchen an genau diesem Fenster vorbeiflaniert, durch das Jacques nun gedankenverloren auf die Weiden sah, und hatte ihm bei seinen Vorbereitungen für den Abend zugeschaut. Für einen Moment glaubte er, sie wäre soeben vor seiner Nase an der Scheibe vorbeigehuscht. Jacques trocknete sich die Hände ab und spähte angestrengt nach draußen. Wahrscheinlich hatte er sich geirrt. Er atmete tief ein und genauso tief wieder aus, als er plötzlich spürte, wie sich eine Hand sanft auf seine Schulter legte.
»Bravo!«, lobte eine Stimme, die ihm so vertraut war wie keine zweite. »Es geht voran, das ist gut.«
»Elli!«
Sie stand direkt neben ihm. In ebenjenem strahlend weißen Sommerkleid, in dem er sie gerade draußen vor dem Fenster zu sehen geglaubt hatte, ein buntes Kränzchen aus wilden Sommerblumen im Haar. Obwohl sie beide Serge Gainsbourg-Fans waren, musste Jacques immer an den berühmten Song von Scott McKenzie denken, wenn er Elli so sah. » If you’re going to San Francisco be sure to wear some flowers in your hair. « 1967 war das gewesen – der Summer of Love drüben in Amerika, der auch in Frankreich nicht ohne Wirkung geblieben war. Er hatte den Song als kleiner Junge im Radio gehört, wieder und wieder, rauf und runter, und der Text hatte sich ihm eingebrannt wie ein unsichtbares Tattoo.
»Aber jetzt leben wir in der Gegenwart, Jacques. Können wir uns darauf einigen?«
Elli erbrachte den Beweis, dass sie mühelos seine Gedanken lesen konnte, mit einem sanften Lächeln, aber auch mit diesem leisen, ihm wohlbekannten Unterton, der ihm Sorgen bereitete. Er beschloss, es einfach zu ignorieren.
»Wir können uns auf alles einigen, solange du nur bei mir bleibst!«, jubelte er und nahm sie so stürmisch in den Arm, dass ihre nackten Füße in der Luft baumelten. Es war genau wie früher. Als sie gesagt hatte, sie freue sich, dass es vorangehe, hatte Jacques angenommen, dass sie damit
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