Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
Augenblick keinen weiteren Besuch erlauben kann.«
Lorena spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. »Bitte, ich weiß, dass es meine Schuld ist, dass ich so viel Zeit versäumt habe, aber geben Sie uns doch die Chance, das zu nutzen, was uns noch bleibt.«
Die Miene des Arztes wurde weicher. »Das würde ich gern, aber im Moment erkennt sie niemanden. Ihr Geist irrt durch irgendeine Fantasiewelt ihrer Kindheit. Sie redet wirr und ist nicht ansprechbar. Ich musste ihr ein Beruhigungsmittel geben. Sie schläft jetzt, und ich hoffe, dass das Fieber bis morgen gesunken ist und sie in ihren Gedanken wieder klar wird. Gehen Sie jetzt und kommen Sie morgen wieder!«
Mehr konnte Lorena nicht erreichen. Enttäuscht verließ sie das Heim. Was sollte sie mit dem Tag jetzt anfangen? Sie fuhr an die Elbe und wanderte stundenlang am Ufer des breiten Stroms entlang, der ihr so aufgewühlt vorkam wie ihre Gedanken. Es wurde Abend, doch sie wollte nicht zu ihrer Pension zurückkehren. Sie würde in diesem Zimmer keine Ruhe finden. Stattdessen trieb es sie an die Orte ihrer Kindheit zurück. Sie fuhr bis zum Beginn der Straße, an deren Ende das Haus stand, in dem sie das Glück und das Leid ihrer Kindheit erlebt hatte. Noch einmal betrachtete sie es, bis sich die Dunkelheit über den Garten legte und im Haus die ersten Lichter angeschaltet wurden. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, machte sich Lorena noch einmal zum See auf. Es war kalt. Der Herbstwind zerrte an ihren Haaren und drang durch ihre Jacke, doch noch kälter war ihre Seele, die sie ruhelos vorantrieb. Die Fragen drehten sich immer schneller und peinigten sie. Sie machten sie taub und blind für ihre Umgebung, die nur schemenhaft an ihr vorüberglitt. Und dennoch schien einer ihrer Instinkte hellwach. Lorena hatte das Seeufer fast erreicht, als sie innehielt. Die Fragen waren für einen Augenblick vergessen.
Was war das?
Sie bewegte sich nicht. Sie konnte den Schatten spüren, der sich von hinten langsam näherte. Blitzschnell wandte sie sich um, doch da war nur ein Huschen in ihrem Augenwinkel und dann Stille und Dunkelheit. Und dennoch war sich Lorena sicher, dass sie nicht allein war. Wer trieb sich um diese Stunde an einem späten Herbstabend hier herum? Irgendein Landstreicher? Der böse schwarze Mann, vor dem man die Mädchen seit Generationen warnte?
Sie lauschte in sich hinein. Nein, Furcht empfand sie nicht. Die Nacht war bereits hereingebrochen. Sie konnte sich jederzeit wandeln und der Gefahr entfliehen.
Langsam wandte sich Lorena wieder um und ging Schritt für Schritt weiter, während all ihre Sinne angespannt waren, bis sie den Schatten wieder wahrnahm, der lautlos die Verfolgung fortsetzte.
Wer war das?
Nein, die Frage war nicht ganz richtig.
Was war das?
Sie wusste, dass sie diesen Schatten nicht zum ersten Mal wahrnahm. In London hatte sie seine Anwesenheit in den vergangenen Wochen immer wieder gespürt. Jemand beobachtete sie und folgte ihren Schritten. Aber warum?
Lorena blieb am Seeufer stehen, doch während ihr Blick über das Wasser glitt, erspürten ihre anderen Sinne, wie die Gestalt hinter ihr näher kam und sich dann rechts von ihr im Schilf verbarg.
Langsam wandte sich Lorena der Stelle zu, ohne dass sie jemanden sehen konnte, dennoch war sie sich sicher, dass sich genau dort etwas vor ihr verbarg.
»Können wir das Versteckspiel nicht endlich lassen? Ich weiß, dass Sie mir folgen und sich hier verbergen, und Sie wissen, dass dies nicht das erste Mal ist, dass ich Sie entdecke. Also würde ich vorschlagen, wir stellen uns einander vor. Ich denke, Sie sind im Vorteil und wissen, wer ich bin. Wäre es da nicht fair, wenn Sie sich endlich nun auch mir vorstellen würden?«
Obgleich sie angestrengt lauschte, hörte sie das Schilf nicht rascheln, doch ein paar der langen Wedel bewegten sich, und dann stand unvermittelt eine Frau vor ihr auf dem schmalen, grasbewachsenen Uferweg. Obgleich es dunkel war, erkannte Lorena sie. Das heißt, sie sah ihre ungewöhnliche Schönheit und wusste sofort, wo sie sie schon einmal gesehen hatte. Jason kam ihr in den Sinn. Sie sah seinen bewundernden Gesichtsausdruck, der sich in Verwirrung wandelte und dann in so etwas wie Schuldbewusstsein. Musik ertönte in ihrer Erinnerung. Es war der mitreißende Rhythmus von Salsamusik.
»Raika«, stieß Lorena hervor. »Wie kommen Sie hierher? Was tun Sie hier? Und warum folgen Sie mir?«
Raika deutete eine Art Kratzfuß an und setzte ein
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