Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
vergangen. Ich habe lange nicht mehr daran gedacht. Kind, wie konnte ich das vergessen? Es ist noch eine ganze Kiste bei meinen Sachen auf dem Dachboden. Ich erinnere mich genau. Ich sagte, sie dürfen sie nicht wegwerfen, und habe sie zu den Dingen gestellt, die mir wichtig waren. Den Rest haben sie wohl verkauft oder verschenkt.« Sie runzelte verwirrt die Stirn und schüttelte den Kopf, als wolle sie so ihre Gedanken klären.
»Kind, ich mag mir gar nicht ausmalen, was du durchgemacht hast. Und jetzt bist du mit diesem Jason zusammen? Wie geht das? Oh, jetzt verstehe ich deine Sorge und deine Ängste. Mein armes Kind. Du musst auf den Dachboden gehen und sie holen. Es ist wichtig, hörst du. Du kannst es sonst nicht beherrschen. Was musst du durchgestanden haben!«
Lorena drückte eindringlich die schmalen Hände der Großmutter und sagte: »Dein Haus gehört dir nicht mehr. Es wurde schon vor vielen Jahren verkauft. Erinnerst du dich nicht mehr? Vater hat mit dir darüber gesprochen, dass du das Geld für das Heim hier brauchst.«
»Aber ich habe gesagt, dass die Kisten auf dem Dachboden bleiben sollen«, insistierte ihre Großmutter. »Sie hat es mir versprochen. Sie gehören dir, und ich will, dass du sie bekommst. Du musst sie wieder nehmen. Wie soll das sonst werden? Ich darf gar nicht daran denken, was noch alles hätte passieren können.« Ihr Blick schweifte ab, und Lorena spürte, wie ihr Geist ihr entglitt.
»Großmutter, bitte, konzentrier dich. Was sind das für Tabletten und was bewirken sie? Warum sollten sie für mich wichtig sein? Wer hat mit dir darüber gesprochen? Wer weiß sonst noch über uns Nachtmahre Bescheid?«
Doch ihre Großmutter entriss ihr ihre Hände und duckte sich unter ihrem Blick.
»Ja, Mama, ich hab sie genommen, aber ich hab nur eine geschluckt«, sagte sie mit kindlich hoher Stimme. »Ich dachte, sie schmecken süß, weil du sie immer nimmst, aber ich mochte sie nicht. Bitte sei nicht böse. Ich werde es nicht wieder tun. Ich gebe sie dir alle wieder. Ich habe sie in meiner Truhe unter den Puppenkleidern versteckt. Bitte nicht mehr schimpfen!«
Lorena versuchte vergeblich, den Geist ihrer Großmutter in die Gegenwart zurückzurufen, doch je mehr sie sie drängte, desto tiefer flüchtete sie sich in ihre fernen Kindheitserinnerungen. Und als Lorena streng die Stimme erhob, fing sie gar an zu weinen.
»Was ist denn hier los?«
Die barsche Stimme der Pflegerin ließ Lorena zusammenzucken. Sie hatte sie nicht hereinkommen hören, doch nun stürmte sie an den Tisch und beugte sich über ihren Schützling.
»Was ist denn geschehen, Frau Maschek? Haben Sie Schmerzen?«
»Nicht schimpfen«, jammerte die alte Dame. »Ich werde es nicht wieder tun.«
Lorena hob abwehrend die Hände. »Ich habe nichts gemacht. Sie ist im Moment nur etwas verwirrt.«
»Ja, und sehr erregt. Bitte gehen Sie jetzt!«
Lorena fügte sich in ihr Schicksal, küsste ihre Großmutter zum Abschied und verließ dann das Heim, doch sie schwor sich, das Thema am nächsten Tag noch einmal anzuschneiden.
Kapitel 16
EINE NACHT AUF DEM KIEZ
Am Samstag fing ein Arzt Lorena ab, als sie den Gang zu Zimmer achtzehn entlangeilte. Es gab noch so viele Fragen, auf deren Antwort sie hoffte. So viele nebelhafte Erinnerungen, die sie zusammen ins helle Licht holen mussten.
»Darf ich Sie kurz sprechen? Sie sind doch Frau Mascheks Enkelin?«
»Ja«, gab Lorena zögernd zu und reichte ihm die Hand.
Er führte sie in sein Sprechzimmer und ließ sie dort Platz nehmen.
»Was gibt es denn?«, fragte Lorena ungeduldig. Sie wollte zu ihrer Großmutter und jede Minute der wenigen Zeit nutzen, die ihnen vor ihrem Abflug noch blieb.
»Frau Maschek geht es nicht gut«, sagte der Arzt und sah sie streng an. »Sie fiebert.«
»Hat sie sich gestern erkältet?« Lorena dachte schuldbewusst an ihren langen Ausflug. Hätte sie nur eine Decke mitgenommen. Sie selbst hatte nicht gefroren, Großmutter aber war eine alte Frau und konnte sich nicht bewegen.
»Nein, keine Erkältung«, widersprach der Arzt. »Ich denke, die Aufregung war einfach zu viel. Ich weiß nicht, was Sie mit ihr besprochen haben, jedenfalls muss es Frau Maschek sehr aufgewühlt haben. So sehr, dass sich ihr Geist in die Vergangenheit zurückzieht und ihr Körper sich mit Fieberschüben wehrt.«
»Ich muss zu ihr!«
Der Arzt hielt sie zurück. »Nein, das halte ich für keine gute Idee. Sie hat sich in den vergangenen beiden Tagen so aufgeregt, dass ich im
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