Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
wie ich dachte.«
»Das habe ich auch geglaubt«, sagte Lorena leise. »Ich dachte, ich bin die Einzige, die diese Qual erdulden muss, ein Geheimnis, das ich mit niemandem teilen kann.«
Ihre Großmutter hob den Blick. »Nur eine Qual? Ich habe meine Mutter als Mahr gesehen. Sie war überirdisch schön! Und sie hat die Wandlung genossen. Ich glaube, sie hat jede Nacht die Stunde herbeigesehnt, da sie in ihre andere Haut schlüpfen und ihrem ärmlichen Alltagsleben entfliehen konnte. Empfindest du es denn nur als Last?«
Ja!, war Lorena versucht zu rufen, doch so recht wollte es ihr nicht über die Lippen. Sie erinnerte sich an den Rausch, an das Glück, auf weiten Schwingen durch die Nacht zu gleiten, an die so anderen Farben und Gerüche der Nacht, die intensiver und eindringlicher schienen. Sie dachte an die befreienden Gefühle der Lust, die ihren Körper erbeben ließen, wenn sie sich mit einem Mann vereinte, den sie sich für die Nacht gewählt hatte. Nein, es wäre eine Lüge gewesen.
»Es gibt Nächte, die sind herrlich«, gab sie zu, »und früher, am Anfang, habe ich jede Wandlung herbeigesehnt, weil ich immer wieder diese schöne Gestalt haben wollte, doch alles hat seinen Preis. Ich kann das Wesen in mir nur schlecht kontrollieren. Es ist ein archaisches Ungetüm, das mir Angst einflößt. Viele Dinge, die ich in der Nacht als Mahr getan habe, würde Lorena am Tag verabscheuen!«, sagte sie leise.
Ihre Großmutter nickte. »Ich glaube, ein Nachtmahr lässt sich nicht von der Moral unserer Tage einschränken. Er unterwirft sich nur seinen eigenen Regeln, die wir vielleicht nicht gut finden.«
Sie sprachen lange miteinander. Später schob Lorena ihre Großmutter im Rollstuhl durch den Park, bis sie zum Mittagessen gerufen wurden. Else Maschek verdrehte beim Anblick des Labskaus auf ihrem Teller die Augen und schob den Bismarckhering zur Seite.
Lorena sah, dass sie nicht viel aß. Bald schon legte sie das Besteck beiseite und schloss die Augen.
»Bist du müde? Willst du dich hinlegen?«
Else Maschek nickte. »Ja, ich fürchte, ich schaffe es ohne meinen Mittagschlaf nicht mehr. Unser Ausflug in die Vergangenheit hat mich mehr angestrengt, als ich gerne zugebe.«
So half Lorena ihrer Großmutter ins Bett und unternahm selbst einen strammen Fußmarsch, während sie schlief. Später saßen sie bei Tee und Kuchen, den Lorena in einer Konditorei besorgt hatte, wieder zusammen in Else Mascheks Zimmer. Der Himmel hatte sich zugezogen, und es regnete ein wenig, doch sie bemerkten es kaum. Sie reisten zusammen wieder in die Vergangenheit.
»Ich kann mich an so vieles nicht mehr klar erinnern, doch ich habe Angst, zu tief zu graben. Ich fürchte mich davor, was ich dort entdecken könnte. Vielleicht ist es eine Gnade, dass ich es verdrängt habe? Und dennoch treibt es mich um und lässt mir keine Ruhe. Was habe ich in dieser Gestalt alles getan? Wie viel Leid habe ich anderen und damit auch mir zugefügt?«
Else Maschek schüttelte mit bedauernder Miene den Kopf. »Ach mein Kind, ich weiß es nicht, doch auch ich habe um dich gefürchtet.«
»Deshalb hast du mich eingeschlossen.«
»Ja, und ich habe dir diese Pillen gegeben. Sie hat gesagt, es würde einfacher für dich werden.« Else Maschek runzelte die Stirn. »Es ist alles ein wenig verschwommen, doch ich weiß, dass sie zu mir kam und mich warnte, mich einzumischen. Aber sie gab mir diese kleinen roten Dinger, damit du die Kontrolle behältst und nicht auffällst. Irgend so etwas war es.« Else Maschek hob den Kopf und sah ihre Enkelin scharf an.
»Du nimmst sie doch noch? Du hast mir geschworen, dass du sie niemals absetzen wirst!«
»Diese Vitamintabletten, die du mir gegeben hast?«
»Ja, nein, ich meine, ich sagte dir, es seien Vitamintabletten. Du hast sie doch genommen? Du hast es versprochen!«
Lorena griff beruhigend nach ihrer Hand. »Aber ja, Großmutter, du musst dich nicht aufregen. Ich habe sie noch während der ganzen Highschoolzeit brav geschluckt, und mir ging es gut. Aber sag, wer hat sie dir gegeben? Mit wem hast du gesprochen?«
Doch ihre Großmutter reagierte nicht auf ihre Fragen. »Und später? Nimmst du sie jetzt auch noch?«, fuhr sie beharrlich fort.
»Nein, schon lange nicht mehr. Irgendwann dachte ich mir, sie seien nicht so wichtig.« Dass sie den Rest der Pillen in einer Neumondnacht ins Klo geschmissen und heruntergespült hatte, verriet sie lieber nicht.
»O Gott, du hast keine mehr? Natürlich. Es sind Jahre
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