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Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin

Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin

Titel: Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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Wie sollte ich sie nur aufspüren? Wie lange war sie überhaupt schon weg?
    Ich lief durch den Garten, sah im Gartenhäuschen nach und unter jedem Busch. Dann erweiterte ich meine Kreise. Ich rief nach Lucy, bis meine Stimme wieder vom Donnergrollen verschluckt wurde. Ein grelles Leuchten zerriss den Himmel und öffnete die Schleusen. Der herabprasselnde Regen nahm mir die Sicht. Ich war zu langsam und zu unbeweglich! Ich riss mir die Jacke herunter und schlüpfte aus dem T-Shirt. Dann wandelte ich mich. Mit ausgebreiteten Schwingen schoss ich los. Ich flog zu allen Plätzen, die mir einfielen. Ich hatte das Gefühl, jeden Quadratmeter des Dorfs abgesucht zu haben, jeden Feldrain, das Wäldchen, den Bach. Ich umrundete den ganzen See, während das Gewitter mit seinen Sturzfluten mich zu verhöhnen schien. Bald konnte ich meine heiseren Rufe selbst kaum mehr hören. In der Ferne sah ich mehrere Wagen mit Blaulicht auf- und abfahren. Dann hörte ich Hundegebell, doch ich setzte meine Suche beharrlich fort. Ich musste Lucy finden und sicher nach Hause bringen.
    Es musste längst nach ein Uhr gewesen sein, als ich erschöpft am Ufer des Sees landete. Ich fühlte mich verbraucht. Mein Körper strebte zu seiner eigenen Gestalt zurück. Halb nackt kauerte ich mich zitternd im Schilf zusammen, bis der Regen endlich nachließ.
    So fand mich der Hundeführer in den frühen Morgenstunden. Kaum zehn Meter von der Stelle am Ufer entfernt, wo Lucys Kleider im Schilf im Wasser lagen.
    Lorena wandte sich ab. Die Erinnerungen schmerzten sie. Lucys kleiner Körper war nicht wieder aufgetaucht, und so hatte man, als die Kriminalpolizei keine Hoffnung mehr schenken konnte, einen leeren weißen Kindersarg begraben. Ihre Eltern ruhten nun an ihrer Seite.
    Mit brennendem Herzen schritt Lorena langsam den Weg zurück, den sie als Kind so oft fröhlich entlanggehüpft war. Noch eine Biegung, dann stand sie vor der Hecke des Hauses, in dem sie ihre ersten fünfzehn Jahre verbracht hatte. Fast kühl ließ sie ihren Blick durch den Garten und über das Gebäude schweifen und registrierte all die kleinen Veränderungen, die sie erlebt hatten, seit der Nachlassverwalter nach Papas Tod das Haus hatte verkaufen lassen. Nein, das war nicht mehr ihr Zuhause. Es war nur ein Haus mit einem Garten, nichts weiter.
    Bereits um neun am nächsten Morgen stieß Lorena die Eingangstür des Seniorenstifts auf und eilte zum Zimmer mit der Nummer achtzehn. Dort klopfte sie und lauschte ängstlich, ob die Stimme, die sie hereinrief, kräftig klang. Zaghaft öffnete sie die Tür. Ihre Großmutter saß noch in ihrem Bett, ein Tablett mit einem etwas lieblos zusammengestellten Frühstück auf den Knien. Ihr missmutiger Blick wandelte sich zu einem warmen Lächeln.
    »Lorena, wie schön, dass du kommst. Ich war mir nicht ganz sicher, ob du wirklich bei mir warst oder ob mein Geist mir wieder Streiche spielt. Komm zu mir! Würdest du mir bitte die Rinde vom Brot schneiden? Es fällt mir so schwer, sie zu kauen, aber das kann man den Pflegerinnen hier hundertmal sagen.« Sie seufzte. »Ich weiß, ich sollte mich nicht beschweren. Sie haben hier alle so viel zu tun. Das Personal ist knapp und schlecht bezahlt, und dennoch ärgert es mich, wenn ich bis Mittag warten muss, bis mir jemand in meinen Rollstuhl hilft, oder wenn ich dieses harte Brot auf den Teller bekomme, das ich nicht richtig kauen kann. Außerdem esse ich viel lieber Erdbeermarmelade. Diese Kernchen aus den Himbeeren bleiben immer in den Zähnen hängen.« Sie hielt inne und seufzte. »Entschuldige, mein Kind, ich wollte dich nicht mit meinen alltäglichen Nichtigkeiten belästigen, wenn du schon einmal Zeit hast hierherzukommen. Sag mir, wovon haben wir gestern gesprochen? Es ist alles ein wenig verschwommen. Weißt du, die neuen Dinge sind so flüchtig geworden. An meine Kindheit und an deine ersten Jahre kann ich mich noch sehr gut erinnern.«
    Das schien Lorena das rechte Stichwort. Sie zog sich einen Stuhl heran, griff nach dem Messer und befreite die Brotscheiben von der Rinde. Dann bestrich sie sie mit Butter und Marmelade. »Davon haben wir gesprochen, von deiner und von meiner Kindheit – und von deiner Mutter, die wie ich dieses wilde Wesen in sich trug«, sagte sie.
    »Nachtmahr«, sagte die alte Frau und lauschte dem Wort nach. »Ich wusste damals nicht einmal, dass es einen Namen dafür gibt. Es war nur ein faszinierendes, doch auch erschreckendes, dunkles Geheimnis, einzigartig auf der Welt,

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