Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
küsste er sie zärtlich auf den Mund.
»Ich habe dich gar nicht verdient«, hauchte sie, während ihr die Lider zufielen.
»Doch, das hast du«, gab er zurück und hielt ihr etwas hin.
Lorena riss die Augen auf.
»Willst du das noch nehmen? Ich habe den Brief in der Truhe studiert. Es ist, wie deine Großmutter sagte: am Morgen nach der Wandlung zu Neumond.«
Lorena nahm die kleine rote Pille und steckte sie in den Mund.
»Ich hoffe, wir tun das Richtige«, sagte Jason besorgt.
»Das hoffe ich auch«, erwiderte Lorena schläfrig und sank in ihre Kissen zurück. Sie schlief bis zum Mittag und ließ sich dann von Jason mit einem üppigen Frühstück verwöhnen, das sie brüderlich mit Finley teilte. Dann spazierten sie Hand in Hand durch den Kensington Park und wärmten sich später in einer kleinen Teestube auf.
Die Anspannung stieg, als es Abend wurde. Um die Zeit zu verkürzen, gingen sie ins Kino, doch Lorena konnte sich nicht so recht auf die Figuren und die Handlung konzentrieren. Sie lauschte in sich hinein und versuchte zu ergründen, was in ihrem Körper vor sich ging. Hatte das winzige rote Ding überhaupt etwas bewirkt, oder war das alles nur Einbildung? Es war nach elf, als sie zurückkehrten und sich ins Wohnzimmer setzten. Sie waren beide angespannt und sahen einander nur schweigend an. Alles, worüber sie sich hätten unterhalten können, wäre ihnen trivial erschienen, denn während die Minuten verstrichen, interessierte sie nur eine Frage: Würde die Pille so wirken, wie sie es sich erhofften? Würde Lorena dem Nachtmahr in sich die Kontrolle entreißen und wieder die eigene Herrin über ihre Nächte werden?
Lorena verfolgte mit ihrem Blick den Zeiger der Uhr, der auf die Zwölf vorrückte. Als die Londoner Kirchturmuhren zu schlagen begannen, sprang Lorena auf.
»Was ist?«, rief Jason und sah sie besorgt an.
Lorena ließ sich mit ihrer Antwort Zeit, bis die letzten Schläge verklungen waren und sie im Zimmer nur wieder das Ticken der Uhr hörten.
»Es ist nichts«, sagte sie. »Überhaupt nichts. Ich spüre, dass Mitternacht vorbei ist, aber ich muss mich nicht verwandeln.« Das Staunen in ihren Worten wurde zu einem Strahlen, das ihren ganzen Körper zu erfassen schien. »Ich fühle mich frei!«, rief sie und sank in Jasons ausgebreitete Arme.
Er küsste sie, ließ sie dann aber los und trat einen Schritt zurück. »Musst du dich nicht mehr wandeln, oder kannst du es nicht mehr?«
Lorena schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Bild des Nachtmahrs. Ganz einfach glitt sie in die andere Gestalt. Sie konnte an Jasons erstaunter Miene sehen, wie fantastisch das wirken musste, und genoss seine Blicke. Sie hatte nichts von ihrer berückenden Schönheit eingebüßt. Lorena spürte, wie Lust in ihr aufflammte und sich warm in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Sie ging auf Jason zu und küsste ihn, bis er nach Luft schnappte. Dann zog sie ihn ins Schlafzimmer und stieß ihn aufs Bett.
»Die Nacht ist noch jung«, sagte sie verführerisch. »Und mir fällt noch etwas ein, das schöner ist als Kino.«
»Ach, was könnte das nur sein«, murmelte Jason und zog sie zu sich herunter.
Raika saß in einem kleinen Salon von Gryphon Manor und wartete, dass die Lady sie rufen ließ. Es war ihr üblicher Bericht, den sie der Lady abliefern musste. Sie hasste es zu warten, und sie hasste es, wenn über sie verfügt wurde. Sie war schließlich ein freier Nachtmahr, der selbst über seine Zeit und sein Tun und Lassen bestimmte!
Zumindest war sie das viele Jahre lang gewesen, bis ihr Leben sich Stück für Stück verändert hatte. War sie zu einem Lakai der Lady geworden? Sie wollte keine unscheinbare Hüterin sein, die sich in ihrem schwarzen Anzug unsichtbar machte und nur für die Befehle der Lady zu existieren schien.
Nein!
Aber war sie nicht auf dem besten Weg, genau so zu werden?
Nein!
Selbst wenn sie für die Lady Lorena im Auge behielt und hierherkam, um zu berichten, so würde sie doch nie aufhören, das zu tun, was ihr Spaß machte, und so zu leben, wie sie es für richtig hielt.
Das hoffte sie zumindest.
Von draußen ertönten unvermittelt seltsame Geräusche. Ein lauter Ruf und dann ein Klirren, wie wenn Metall mit großer Wucht auf Metall trifft. Raika sprang von ihrem Stuhl auf und eilte zur Tür. Langsam drückte sie die Klinke runter und zog den schweren Flügel auf. Sie streckte den Kopf durch den Spalt, wich aber sofort wieder zurück, als ein Schatten knapp an ihr
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