Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
vorbeizischte. Für einen Moment hielt der Schemen inne und verdichtete sich zu der Gestalt einer hochgewachsenen Frau. Sie war mit einer schwarzen Lederhose und einem knappen Lederbustier bekleidet und hielt ein Schwert in den Händen, dessen Klinge gefährlich scharf im Schein der Lampen blitzte. Obgleich Raika sie nicht kannte, war klar, dass sie zu Myladys Guardians gehören musste.
Wie in Zeitlupe hob sie das Schwert über den Kopf und verlagerte das Gewicht auf das linke Bein. Die Frau war sehr groß, mindestens eins neunzig, und eher sehnig als weiblich zu nennen. Sie trug ihr schwarzes Haar sehr kurz geschnitten. Dennoch hatten ihre schmalen Gesichtszüge etwas, dem man sich nicht entziehen konnte. Raika konnte die Macht spüren, die von ihr ausging. Es war eine ganz eigene Schönheit, eher wild und katzenhaft. Ihr ganzer Körper war gespannt und ihre Augen in Konzentration zusammengekniffen.
»Komm!«, sagte sie leise, doch das Wort durchdrang mühelos die Halle.
Raika folgte ihrem Blick und entdeckte nun auch die zweite Gestalt. Diese Hüterin kannte sie. Allerdings hatte Grace ihren üblichen dunklen Anzug nun gegen ein ähnliches Lederoutfit getauscht und hielt ebenfalls ein Schwert in den Händen. Ihre Finger umklammerten den verzierten Griff, während sie langsam näher kam.
»Komm«, sagte die fremde Kämpferin noch einmal, dann sprang sie unvermittelt mit einem riesigen Satz vor. Die Klingen prallten gegeneinander. Obgleich Grace den Angriff erwartet haben musste, bewegte sich die Guardian so schnell, dass es ihr kaum gelang, mit ihrem Schwert die richtige Verteidigungsposition einzunehmen. Raika hatte das Gefühl, sie würde das Gleichgewicht verlieren und nach hinten überkippen, so hart war der Schlag, doch dann fing sie sich mit einer raschen Schrittfolge.
»Gut«, kommentierte die Fremde, wirbelte um Grace herum und griff dann sofort noch einmal an. Wieder parierte Grace, doch es war klar, wer die Regeln dieses Kampfs schrieb. Dennoch biss die Jüngere der beiden die Zähne zusammen und wagte einen Angriff. Die Guardian parierte mühelos und wich dann dem nächsten Hieb mit einer so raschen Drehung aus, dass Raika ihr mit ihrem Blick nicht folgen konnte. Die Konturen verwischten und zogen sich erst wieder zusammen, als sie vor dem großen Kamin kurz innehielt. Wieder verlor Grace das Gleichgewicht. Dieses Mal fiel sie beinahe nach vorn, als ihr Hieb ins Leere ging.
»Das war nicht schlecht«, lobte die Kämpferin dennoch. Grace schnaubte. Raika konnte ihr ansehen, dass sie alles andere als zufrieden mit sich war. Sie spürte, wie es in dem jungen Nachtmahr kochte und der Zorn die Oberhand zu gewinnen suchte. Das war gefährlich! Raika wusste, wie schnell große Emotionen den Blick trüben konnten. Sie machten einen leichtsinnig und damit angreifbar. Und so kam es, wie es kommen musste: Grace stürzte blindlings vor, während die Guardian lässig ihren Angriff abwartete. Raika sah das überlegene Lächeln in ihrem Gesicht, als sie mit einer eleganten Drehung des Handgelenks ihr Schwert emporsausen ließ. Dann trat sie ebenso schnell mit ihrem Stiefel in Graces Magengrube. Es gab einen dumpfen Schlag, als Grace auf den Rücken knallte, und ein Scheppern, als ihr Schwert in hohem Bogen davonflog und über den Steinboden davonschlitterte. Die Fremde setzte ihren spitzen Lederstiefel an Graces Kehle. Sie lächelte noch immer, doch Raika konnte keine Schadenfreude in ihrer Miene erkennen.
»Das war schon recht gut, aber du musst lernen, deine Emotionen unter Kontrolle zu halten. Und du musst schneller werden!«
Die Guardian nahm ihren Stiefel von Graces Kehle und reichte ihr die Hand. »Nutze deine magischen Fähigkeiten. Du musst erspüren, was dein Gegner als Nächstes tut, noch ehe er den Schlag ausführt. Nur dann hast du gegen unsere wahren Feinde eine Chance.«
»Sie können nicht fliegen«, sagte Grace ein wenig abfällig und stand auf, ohne nach der dargebotenen Hand zu greifen.
»Nein, das können sie nicht«, sagte die Kämpferin bedächtig. »Aber sie haben andere Stärken, die wir nicht unterschätzen dürfen. Und sie werden jeden Nachtmahr auf dieser Welt vernichten, wenn wir es zulassen.«
Ehe Raika sich fragen konnte, was genau sie damit meinte, öffnete sich am anderen Ende der Halle die Tür zur Bibliothek, und zwei Gestalten traten ein. Die eine sah der Fremden recht ähnlich. Sie war ebenfalls groß und hager mit einem schmalen Gesicht und kurz geschorenem schwarzem Haar.
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