Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
wolle sie alles Leben aus ihr herauspressen. Die beiden wankten eng umschlungen hin und her, doch Lorena ließ nicht locker. »Verflucht, komm zu dir!«, presste Raika hervor und stöhnte. »Ich schwöre dir, ich habe ihm nichts getan.«
Lorena fauchte nur und drückte noch stärker zu. Raikas Blick wurde trüb. Sie sammelte die Magie, die ihr geblieben war, in ihrem Innern und zog all ihre Kraft zusammen. Dann sprang sie mit einem Satz nach hinten. Doch Lorena hatte ihren Befreiungsversuch geahnt, ihr Zorn verlieh ihr mehr Kraft, als Raika es je für möglich gehalten hatte. Sie ließ nicht los, und so riss Raika sie mit sich, sodass sie beide das Gleichgewicht verloren. Sie prallten gegen das Fenster. Mit einem Klirren zersprang die Scheibe. Noch immer eng umschlungen, stürzten sie hinunter und schlugen im Hof hart auf dem regennassen Pflaster auf. Beide stöhnten vor Schmerz. Endlich lockerte Lorena ihre Umklammerung. Raika schob sie von sich.
Sie müsste jetzt tot sein oder zumindest schwer verletzt. Lorena regte sich zaghaft, dann sprang sie auf die Füße. Sie war ein Nachtmahr. Sie war stark und unbesiegbar! Sie spürte, wie sich ihre Schwingen entfalteten. Es war noch nicht zu Ende. Lorena stieß ein bedrohliches Knurren aus.
»Verdammt, dir werde ich es zeigen!«, schrie Raika. »Du wirst vor mir auf der Erde kriechen und mich um Verzeihung bitten! Was bildest du dir eigentlich ein? Egal, was Mylady sagt, wie wichtig du bist, ich habe die Nase voll von deinem moralischen Getue. Deinen heiligen Jason habe ich nicht vergiftet!«
Sie sprang vor und umklammerte nun ihrerseits Lorena, sodass diese nicht entkommen konnte. Dann entfaltete sie ihre Flügel und schoss mit einem einzigen kräftigen Schlag zusammen mit ihr in den Nachthimmel. Lorena kämpfte gegen sie und schlug mit den Schwingen. Die beiden Nachtmahre taumelten über den Dächern der Häuser durch die Luft. Immer wieder drohten sie abzustürzen und kamen einmal den dahineilenden Autos auf der Hauptstraße gefährlich nahe. Dann schossen sie wieder hoch in die Luft und streiften einen der hohen Bäume, die Kensington Palace Gardens zu einer Oase für seine zumeist adeligen Bewohner machte.
»Lass los!«, kreischte Lorena, als Raika an ihrem langen Haar riss.
»Erst wenn du dich entschuldigst.«
»Niemals!«
Verbissen kämpften sie weiter, bis sie im Park nahe dem großen, runden See niedergingen. Ein paar Schwäne kreischten erschreckt und flatterten von ihren Schlafplätzen auf.
Keuchend und völlig erschöpft standen sich die beiden Nachtmahre gegenüber. In ihren Gesichtern zeichneten sich allmählich die Spuren ihrer Prügelei ab.
Lorena spürte, wie die linke Seite ihres Gesichts zuzuschwellen begann. Ihr ganzer Körper schmerzte, doch sie richtete sich stolz auf und drückte den Rücken durch. »Wer ist Mylady?«, stieß sie hervor.
Raika starrte sie an. Auch ihr Gesicht war nicht mehr makellos schön. Ihr Haar stand wirr nach allen Seiten ab. Sie schnappte noch immer nach Luft, sagte aber nichts, sondern starrte Lorena nur trotzig an.
»Warum sollte ich für irgendjemand wichtig sein? Und was soll das bedeuten, du hast ihn nicht vergiftet?«
Noch immer schwieg Raika.
Lorena warf den Kopf in den Nacken, ballte die Hände zu Fäusten und schrie, dass die Luft um sie umher erzitterte. »Rede mit mir! Ich habe ein Recht darauf, alles zu erfahren. Ich will endlich wissen, was geschehen ist, wer ich bin und was um mich herum vor sich geht. Ich habe genug von dieser Geheimniskrämerei, von flüchtigen Schatten, die mich verfolgen, und dem Flüstern, das verstummt, wenn ich mich ihm zuwende. Ich will endlich wissen, was meine Erinnerungen vor mir verbergen, und sei es noch so schrecklich. Schlimmer als die Dunkelheit und die vielen Fragen kann es nicht sein!«
Ganz langsam senkte Raika den Kopf, dann nickte sie. »Gut«, sagte sie gedehnt. »Wir werden reden. Ich sage dir alles, was ich weiß. Aber nicht jetzt. Es wird bald hell. Ich komme morgen wieder, sobald es dunkel ist. Dann werde ich dir erklären, was du wissen musst.«
Lorena kniff misstrauisch die Augen zusammen. »So einfach kommst du mir nicht davon. Du willst mich nur hinhalten.«
Müde schüttelte Raika den Kopf. »Nein, Ehrenwort. Ich werde da sein. Und bitte: Sprich nicht mit Jason! Ich meine, triff keine überstürzte Entscheidung, ehe du alles erfahren hast.«
Lorena sah sie noch einmal scharf an, dann nickte sie. »In Ordnung, ich glaube dir, aber wage es nicht,
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