Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
Hülle überstreifte.
Eine verflucht schöne und verführerische Hülle, findest du nicht?
Ja, natürlich! Wer würde das abstreiten können, aber trotz allem war das nicht sie selbst. Lorena Rittner war weder strahlend schön noch sexy, ihr Körper war nicht gertenschlank und durchtrainiert, und sie hatte weder wundervolles Haar noch diese Katzenaugen. Sie war einfach nur normal.
Normal!, kreischte es in ihrem Kopf. Gibt es auf dieser Erde etwas, das weniger normal ist als du?
Wie um diese Worte zu verstärken, entfalteten sich ihre Flügel auf dem Rücken. Fast transparente Schwingen, stark und biegsam. Die dünnen Häute fingen das Licht ein und schimmerten wie die wabernde Glut eines herabgebrannten Feuers. Fast hätte man sie schön nennen können, wenn sie die Flügel eines Wesens gewesen wären, das Gott auf dieser Erde vorgesehen hätte.
Lorena zwang die Flügel in ihre Schlitze unter die Schulterblätter zurück und schritt betont langsam ins Badezimmer. Sie versuchte, ihre Hüften nicht zu beachten, die bei jedem Schritt aufreizend hin- und herschwangen, als würde sie über einen Laufsteg schreiten. Lorena nahm ihren verwaschenen Frotteebademantel vom Haken und schlüpfte hinein. Nicht, dass es ihr kalt gewesen wäre. In diesen Nachtstunden ihrer Verwandlung machten ihr weder Kälte noch Hitze etwas aus. Es bereitete ihr fast Vergnügen, als sie diesen fremden, wilden Teil in sich empört aufschreien hörte.
Was für ein Sakrileg, diesen wundervollen Körper unter einem scheußlichen Blümchenbademantel zu verstecken!
Lorena lächelte grimmig. Sie war noch immer Herrin über ihren Geist und diesen Körper, zu was auch immer er gehörte. Sie würde sich nicht diktieren lassen, was sie tat oder was sie unterließ. Und sie würde sich auch nicht von dem abbringen lassen, was sie für gut und richtig hielt. Werte und Moral waren nicht davon abhängig, ob es Tag oder Nacht war – und damit basta!
Ach nein?, widersprach wieder diese Stimme in ihr, die sie so sehr hasste und vielleicht auch ein wenig fürchtete. Erinnere dich! Du hast schon wilde Nächte erlebt und Dinge getan …
Lorena stöhnte auf, presste beide Handflächen gegen die Schläfen und kniff die Augen zu. Nein, sie wollte sich nicht erinnern. Sie hatte es vergessen, alles, was geschehen war, und das war gut so.
Vermutlich.
Irgendeinen Grund musste es schließlich geben, dass in ihren Erinnerungen so viele Lücken herrschten. Ihre Kindheit stand ihr noch ganz deutlich vor Augen. Damals, als ihre Mutter und ihr Vater noch gelebt hatten und sie alle miteinander eine glückliche Familie gewesen waren. Doch dann mit dreizehn begannen die Lücken und weißen Flecken, die den Film der Erinnerung immer wieder unterbrachen. Nein, es wunderte Lorena nicht, dass vor allem die Nächte fehlten, doch sie wollte nicht darüber grübeln, was das wohl zu bedeuten hatte. Die Vorstellung, was sich hinter dem Nebel verbergen könnte, machte ihr Angst.
Du könntest ein wenig in dich gehen und nachdenken, vielleicht fällt dir dann das eine oder andere wieder ein?
»Nein!«
Lorena straffte die Schultern, ging in die Küche hinüber und stellte den Wasserkocher an.
Tee? Wie langweilig!, maulte es tief in ihrem Innern, doch sie drängte die Stimme beiseite. Im Bad klapperte es, kurz darauf lugte Finley zaghaft um die Ecke.
»Komm rein«, lockte sie ihn. »Willst du noch ein wenig Milch?«
Er zögerte, kam dann aber in die Küche, auch wenn sein Fell im Nacken noch ein wenig gesträubt war und er jeder ihrer Bewegungen mit aufmerksamem Blick folgte. Die Milch ließ er sich allerdings schmecken. Dann sprang er auf den zweiten Küchenstuhl und rollte sich auf dem Kissen mit dem Rosenmuster zusammen. Lorena ließ ihn gewähren. Sie wusste, dass er sich nicht auf ihren Schoß legen würde. Nicht, solange sie in diesem anderen Körper verborgen war.
So saß Lorena still da, einen Becher heißen Tee in den Händen, und starrte auf die Uhr, deren Zeiger so aufreizend langsam ihre Runden drehten. Es schien eine Ewigkeit zu verstreichen, bis der lange Zeiger endlich wieder auf die Zwölf rückte und es draußen vom Kirchturm her ein Uhr schlug.
Lorena erhob sich. Sie schloss die Augen und ballte die Hände zu Fäusten. Nun würde das Wesen weichen müssen. Nun würden ihre Kraft und ihr Wille ausreichen, den Nachtmahr in ihr zu vertreiben. Sie keuchte, Schweiß trat ihr auf die Stirn, doch sie spürte, wie sich die Schlitze unter ihren Schul ten schlossen und
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