Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
bisher geschrieben hatte. Erinnerungen brandeten auf sie ein. Sie nahm den Füller zur Hand und schraubte den Deckel ab. Dann schlug sie eine neue Seite auf.
Ein Monat verstrich. Ich ging wie immer zur Schule und quälte mich mit Englisch und Französisch herum. Biologie und Mathe dagegen fand ich ganz gut. In Deutsch mussten wir schon wieder ein Buch lesen, das mich überhaupt nicht interessierte. Inhaltsangabe und Erörterung. Dann mal wieder ein unangesagter Vokabeltest. Ich hätte die neuen Wörter am Vortag doch noch lernen sollen. Ich wusste kein einziges. Na großartig. Wieder eine glatte Sechs. Na wenigstens war ich in Erdkunde gut. Das interessierte mich eben.
Auf dem Heimweg machte ich noch einen Abstecher zum See. Ich hatte es nicht sonderlich eilig, nach Hause zu kommen. Meine Mutter würde vielleicht nach der Vokabelarbeit fragen, und es nützte ja nichts, sie zu belügen. Spätestens wenn sie die Sechs unterschreiben musste, würde es rauskommen, und dann würde der Ärger vermutlich noch größer sein. Lügen kam bei ihr gar nicht gut an.
Und auf meinen Vater war da auch kein Verlass. Das hatte ich schon probiert. Eigentlich konnte ich es ganz gut mit ihm. Wenn ich ihn so schräg von unten mit großen Augen ansah und bitte, bitte sagte, funktionierte das meist. Nur eben nicht, wenn es darum ging, der Mutter etwas zu verheimlichen. Da hielten sie dann doch zusammen. Leider.
Wenn wenigstens die Großmutter da wäre. Sie hätte ich fragen können. Sie hielt immer zu mir und meinte, meine Mutter sei manches Mal ein wenig streng mit mir. Die Mutter sagte, es sei nötig, Kinder zu erziehen. Das Privileg der Großmütter sei es dann, sie wieder zu verziehen.
Ich stand am Ufer und sah in das düstere Wasser herab. Es war kühl, von wegen Wonnemonat Mai, und ich merkte, wie ich zitterte, doch ich rührte mich nicht von der Stelle. Ich hatte wieder das Bild vor Augen, wie ich mich in diese unglaublich schöne Frau verwandelt hatte. Die Flügel auf meinem Rücken, mit denen ich über den See geschwebt war. Ich beugte mich ein wenig vor, um mein Spiegelbild zu betrachten, doch ich sah nur mich selbst mit dem fransigen, stumpfen Haar, dem runden Gesicht und der pickeligen Haut. Ich schnitt mir eine Grimasse. Dabei war alles so wirklich gewesen. Ich hatte geglaubt, es wäre echt, und hatte Nacht für Nacht darauf gewartet, dass wieder etwas passieren würde, doch nichts geschah. Rein gar nichts! Außer dass ich zwei Tage später wieder beim Sport hatte mitmachen müssen. Zweitausendmeterlauf bei Nieselregen! Ich war natürlich mies gewesen und hatte jede Menge Spott zusammen mit einer Vier einheimsen dürfen. Jetzt war fast ein Monat vergangen, und ich hatte die Hoffnung aufgegeben. Zumindest fast. In dieser Nacht war wieder Neumond, und ich fühlte mich so aufgekratzt.
Ach, wäre das herrlich, wenn ich noch einmal durch die Nacht fliegen könnte! , dachte ich.
Ich war ganz aufgeregt, als ich nach Hause lief, und hatte die Vokabelarbeit fast vergessen. Vielleicht reichte es ja morgen noch, bei Mutter zu beichten. Vielleicht geschah in dieser Nacht etwas, das alles ändern würde?
Das Telefon klingelte. Lorena schreckte so zusammen, dass sie fast den Füller fallen ließ. Sie musste erst ein paar Mal blinzeln, ehe sie wieder vollständig in der Gegenwart ankam. Dann fiel es ihr wieder ein.
Jason!? Sie stürzte sich geradezu auf ihr Handy und drückte mit bebendem Finger die kleine grüne Taste. Ein Schauer des Glücks durchströmte sie, als sie seine Stimme hörte.
»Hallo, Lorena, wie geht es dir?«
»Danke gut.« Ja, jetzt geht es mir gut.
»Hast du gut geschlafen? Vielleicht ein wenig zu kurz? Ich habe dich doch nicht etwa geweckt? Ich habe extra noch ein wenig gewartet, ehe ich dich anrufe.«
»Nein, alles bestens.« Es war bereits nach zwei! Aber Künstler hatten vielleicht eine andere Vorstellung vom Ausschlafen als sonstige Menschen.
Auf der anderen Seite der Leitung war es still. Sie musste jetzt etwas sagen. Wenn möglich etwas Geistreiches oder etwas Lustiges, das ihn zum Lachen brachte, doch ihr fiel nichts ein. Sie war überhaupt nicht in der Lage, irgendetwas zu sagen. O nein, sie würde es versauen.
Denk nach!
»Lorena, bist du noch dran?«
»Ja«, hauchte sie, doch mehr wollte nicht kommen.
»Was machst du denn heute Nachmittag noch?«
»Ich wollte in den Park«, sagte sie schnell. »Ich gehe sonntags oft in den Hydepark joggen.« Ihr Blick wanderte zum Fenster, wo der Wind den Regen
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