Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
halb Frau, verführerisch in ihrem Blick, in dem keine Unsicherheit und keine Scham zu finden waren, und makellos in ihrem Äußeren. Ich lächelte meinem Spiegelbild zu und drehte mich von einer Seite auf die andere. Ich war so unendlich erleichtert. Es war kein Traum gewesen! Ich hatte diese Verwandlung wirklich erlebt. Ich drehte mich zur Seite, während ich vorsichtig meine Flügel entfaltete und wieder zusammenklappte. Der Schlitz unter den Schulterblättern schloss sich und war kaum mehr zu sehen. Und dennoch konnte ich jederzeit innerhalb eines Wimpernschlags meine Flügel ausbreiten und davonfliegen. Was für ein herrlicher Gedanke!
Ich spürte, wie mich die Unruhe überkam. Die Nacht rief nach mir. Ich musste hinaus. Rasch schob ich das Fenster auf und schwang die Beine über das Fensterbrett. Doch statt mich in den Garten hinabfallen zu lassen, öffnete ich meine Schwingen und stieß mich ab, sodass ich mit einem Satz in den Himmel schoss …
Der Füller entglitt ihren Händen. Vergangenheit und Gegenwart verschmolzen miteinander. Es war Zeit, sich zu wandeln. Längst schon bereitete es ihr kaum noch Schmerzen, und sie brauchte nur wenige Augenblicke, um von Lorena zum Nachtmahr zu werden.
Sie blinzelte und sah sich mit den nun tiefblauen Augen um. Die Nacht war jung und vielversprechend! Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, als sie sich die letzte Seite, die sie geschrieben hatte, durchlas. Ja, diese Nacht war ihr durchaus noch im Gedächtnis. Es wurde Zeit, ihren Erinnerungen neue hinzuzufügen, die es lohnten, bewahrt zu werden. Wie gut, dass sie vergessen hatte, den Riegel vorzulegen. Beschwingt machte sich Lorena auf den Weg zur Mau Mau Bar. Sie hoffte, Noah zu finden, doch er war schon weg, wie ihr Tyler versicherte, der sie fast mit den Augen verschlang. Vermutlich zog er ihr im Geist gerade die wenigen Kleidungsstücke aus, die ohnehin mehr enthüllten als verbargen.
»Es tut mir leid, dass du Noah verpasst hast«, log er. »Aber vielleicht darf ich dich zum Trost zu einem Drink einladen?«
Lorena überlegte nicht lange. Sie lächelte ihn verführerisch an. »Bei dir?«
Er grinste. »Wenn du möchtest?«
Sie nickte und hakte sich bei ihm unter. Es war ihnen beiden bewusst, dass es nicht bei einem Drink bleiben sollte.
Die Woche über trafen sie sich nicht. Tagsüber arbeitete Lorena in der Bank, während Jason nur hin und wieder zu einer Probe musste. Und abends hatte er häufig Auftritte, wenn nicht mit dem großen Orchester, dann im kleinen Rahmen als Mitglied eines Streichquartetts bei Ausstellungseröffnungen, Firmenveranstaltungen oder anderen Festen. Oder er spielte mit den Jungs von der Jazzband. Ein paar private Schüler hatte er ebenfalls, die zu ihm nach Soho in seine Wohnung kamen und sich auf dem Klavier abmühten. So war er beschäftigt und verdiente auch recht gut. Zumindest so viel, dass er seinen Eltern nicht länger auf der Tasche liegen musste, was ihm sehr wichtig war. Daher gab es für sie nur die Möglichkeit, sich erst gegen Mitternacht zu treffen, wozu Jason zwar bereit gewesen wäre, was Lorena aber ablehnen musste.
»Es tut mir leid, aber unter der Woche brauche ich meinen Schlaf. Ich muss früh aufstehen und darf es mir nicht leisten, während der Arbeit unkonzentriert zu sein. Das kann sonst irgendjemand ganz schnell Millionen kosten«, argumentierte sie. Jason akzeptierte es, und so telefonierten sie lediglich miteinander, wenn Lorena Feierabend hatte, ehe er sich zu seinen Auftritten begab.
Je näher das Wochenende rückte, desto nervöser wurde Lorena. Sie würden sich wiedersehen! Schon am Freitag. Jason musste nicht in der Bar spielen. Sie hatten einen wunderschönen langen Abend Zeit füreinander. Nun würde es sich entscheiden, ob er nur eine Kameradschaft auffrischen wollte oder an der Frau interessiert war. Ihre Stimmungen dazu schwankten wie das Wetter über London. Mal tänzelte sie summend durch das Büro und malte sich in den schönsten Farben aus, wie er sie leidenschaftlich küssen würde – sie gestattete dem Film in ihrem Kopf noch nicht, weiterzulaufen; dann, zehn Minuten später, saß sie mit so finsterer Miene an ihrem Schreibtisch, dass nicht einmal Alice es wagte, Lorena um einen Gefallen zu bitten und ihr einen Teil ihrer ungeliebten Arbeit unterzuschieben.
Es war am Freitag gegen fünf, als David sich breitbeinig vor ihrem Schreibtisch aufbaute und die Hände in die Hüften stemmte. »Willst du mir verraten, was mit dir los ist?«,
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