Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
mir vorüberging. Meine Großmutter hatte in den vergangenen Monaten zweimal mit mir nach Hamburg fahren müssen, um mir neue Kleidung zu kaufen. Die Kommentare in der Schule waren nicht schmeichelhaft, und es fiel mir schwer, sie zu überhören. Am liebsten wäre ich überhaupt nicht mehr hingegangen. Ich wollte mich nur noch in meinem Bett verkriechen und an nichts mehr denken müssen. Doch gerade wenn ich alleine in meinem Zimmer war und nichts tat, begann der Teufelskreis meiner Gedanken mich zu quälen. Bilder, Geräusche und Gesprächsfetzen stürzten auf mich ein und führten einen bizarren Tanz auf. Doch sosehr mich das erschreckte, was ich sah und hörte, noch mehr quälte mich, an was ich mich nicht mehr erinnern konnte.
Den ganzen Tag war ich unterwegs gewesen: erst Schule bis nachmittags um vier, dann Volleyballtraining, in dem ich mich wieder einmal nicht mit Ruhm bekleckert hatte. Ich könnte aufhören, aber was sollte ich stattdessen machen? Klavierspielen, wie Großmutter es vorschlug? Ich wusste es nicht. Wenigstens war ich während der Volleyballspiele abgelenkt. Und am Abend zurück in meinem Zimmer, brach wieder alles über mir zusammen. Ich drehte die Musik lauter. Das half vielleicht ein wenig gegen die Stimmen in meinem Kopf, doch die Bilder schienen mir nun nur noch greller, sodass ich glaubte, mein Schädel würde vor Schmerz gleich platzen.
Plötzlich stand Großmutter in der Tür. Sie hatte vermutlich angeklopft, das tat sie immer, doch ich hatte es nicht gehört.
»Bitte dreh die Musik leiser! Dein Vater ist müde und möchte sich etwas ausruhen.«
Mir lag eine schnippische Bemerkung auf der Zunge, doch in Großmutters Miene war so viel Kummer zu lesen, dass ich sie herunterschluckte. Großmutter hatte nicht gesagt, ich solle leise sein, weil es Mama störte oder weil Lucy schlief, aber ich sah in ihren Augen, dass ihr dieser Gedanke auch gekommen war.
Es gab sie nicht mehr. Es war, als habe es sie nie gegeben. Meine Mutter und meine Schwester waren fort. Lucys Sachen, die überall im Haus verstreut herumgelegen hatten, waren verschwunden, und weder mein Vater noch Großmutter redeten über sie und meine Mutter. Wenn es oben nicht das verschlossene Kinderzimmer gegeben hätte, in dem all ihre Sachen noch unberührt wie am Tag ihres Verschwindens lagen, hätte man meinen können, ich habe nie eine kleine Schwester gehabt.
Und keine Mutter.
Diesen Gedanken wollte ich nicht weiterverfolgen. Ich zog eine mürrische Miene, stand aber auf und drehte die Musik leiser.
»Danke. Willst du noch etwas essen?«
Hunger hatte ich. Nein, es war eine Art Gier, alles zu verschlingen, was ich mir auf den Teller lud. Ob Wurstbrote oder Braten mit Kartoffeln oder Schokolade, ich konnte nicht aufhören, wenn ich erst einmal angefangen hatte. Die Stimmen in meinem Kopf schwiegen, während ich aß, und die Bilderfolgen verschwammen, daher aß ich gern und viel. Andererseits spannte meine Hose schon wieder um die Taille, und ich wollte nicht noch eine Größe mehr, daher biss ich die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf.
»Nein, kein Hunger. Ich geh dann ins Bett.«
Großmutter nickte, doch sie sah mich mit einem Blick an, der mir nicht gefiel. Da war etwas Forschendes, Aufmerksames. Dann aber nickte sie. »In Ordnung. Ich wünsche dir eine gute Nacht.« Sie trat näher, umarmte mich und drückte mir einen Kuss auf die Wange, obwohl ich mich ganz steif machte.
Ich wusste nicht, warum. Früher hatte ich mich gern in Großmutters Arme gekuschelt oder mich auf ihren Schoß gesetzt, wenn sie mir Geschichten vorgelesen hatte, doch jetzt wollte ich nicht mehr, dass sie oder mein Vater mich umarmten. Nicht dass mein Vater das noch versucht hätte. Das letzte Mal hatte er mich wohl vor dem Tod meiner Mutter berührt. Oder vor Lucys Verschwinden? Das war auch möglich. Vielleicht stand mir das einfach nicht mehr zu.
Leise schloss meine Großmutter die Tür, und ihre Schritte entfernten sich.
Ich fühlte mich wie ein Tiger in einem Käfig und lief in meinem Zimmer auf und ab. Ich wusste genau, was das für eine Nacht war, und wollte mich unbedingt verwandeln. Ich musste raus, musste die Freiheit spüren und die wilde Lust. Ich wollte diesen Körper, der schwerelos durch die Luft strich.
Ich sah auf die Uhr. Noch nicht einmal zehn. Vielleicht konnte ich mich schon vor Mitternacht wandeln? Wenn ich mich ganz fest konzentrierte, gelang mir das.
Ich bemerkte das Grummeln in meinem Magen, das mich ablenkte.
Weitere Kostenlose Bücher