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Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin

Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin

Titel: Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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gegen die Brust. Es fiel ihr schwer zu schlucken.
    Danach war Lucy sein Liebling gewesen, bis sie in jener Nacht verschwand und ihr Vater zu Stein wurde. Er hatte sich nie wieder von diesem doppelten Schicksalsschlag erholt – bis zu seinem ebenso frühen Ende.
    Lorena spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen. Nein, daran wollte sie jetzt nicht denken. Das war zu viel. Nicht auch noch der Tod ihres Vaters.
    Und doch musste sie sich fragen, ob mit ihm der einzige Mensch gestorben war, der über den Nachtmahr in ihr Bescheid gewusst hatte.
    So musste es sein. Oder doch nicht? Lorena versuchte, sich daran zu erinnern, wann Großmutter das nächste Mal zu Besuch gekommen war. Einen Monat später, zu Neumond! Sie überlegte. War sie sich sicher, oder narrte sie ihre Erinnerung. Nein, es war der Abend, als sie zusammen in Hamburg im Kino gewesen waren und Lorena auf der Rückfahrt schon ganz nervös geworden war. Es war nach elf gewesen, als sie endlich zu Hause ankamen, doch als sie sich in ihrem Zimmer verwandelte, fand sie erneut die Tür und das Fenster verschlossen vor.
    Und der Monat danach? Und der nächste? Und dann an Weihnachten. Sie war gerade ein paar Tage zuvor fünfzehn geworden. Auch in dieser Nacht war Großmutter zu Besuch gewesen. Lorena erinnerte sich an den Abend.
    Ich hatte mir nichts gewünscht, und mein Vater hatte auch nicht danach gefragt. Der ganze Abend war in schrecklich bedrückender Stimmung verlaufen. Es war das zweite Weihnachten ohne Lucy und ohne meine Mutter. So saßen wir zu dritt um den Tisch und stocherten schweigend in unserem Essen herum, während die Weihnachtslieder von Großmutters CD uns zu verhöhnen schienen. Plötzlich legte mein Vater die Gabel beiseite, verbarg das Gesicht in den Händen und weinte. Ich starrte ihn entsetzt an. Langsam, wie von einer fremden Macht getrieben, erhob ich mich und ging um den Tisch herum. Ich sah zu meiner Großmutter hinüber.
    War ich verrückt, dass ich auch nur an so etwas dachte? Doch meine Großmutter lächelte mir aufmunternd zu und nickte. Also legte ich den Arm um meinen Vater und begann, ihm mit der anderen Hand über den Kopf zu streicheln, so als wäre er Lucy, die mal wieder weinte und die ich zu trösten versuchte.
    Es hätte mich nicht gewundert, wenn er meine Hand weggeschlagen und mich angeschrien hätte. Oder wenn er einfach nur aufgestanden und stumm davongegangen wäre, doch stattdessen weinte er nur noch heftiger. Dann wischte er sich über das Gesicht, hob den Kopf und sah mich aus seinen rot verweinten Augen an, doch zum ersten Mal seit dem Tod meiner Mutter las ich nicht den stummen Vorwurf in ihnen.
    »Lorena«, flüsterte er, dann zog er mich zu sich herunter und umschlang mich, als wollte er mich zerbrechen. Wir rutschten zusammen auf den Boden, doch wir ließen einander nicht los. Die Zeit verrann, das Essen wurde kalt, doch wir rührten uns nicht von der Stelle. Es kam mir so vor, als hätten wir uns die ganze Nacht gegenseitig festgehalten.
    Der zweite Weihnachtsfeiertag war Neumond gewesen, und wieder fand ich Fenster und Tür verschlossen. Am nächsten Tag war Großmutter abgereist.
    Und dann? Dann hatte sie diesen schrecklichen Unfall, der sie in den Rollstuhl verbannte und sie zwang, ihr Haus aufzugeben, um in ein Pflegeheim umzusiedeln.
    Und keiner hatte mich danach mehr eingeschlossen.
    Großmutter!
    Sie ist es gewesen. Sie hat die ganze Zeit über Bescheid gewusst. Warum nur hat sie nie mit mir darüber gesprochen? Warum habe ich sie nie gefragt? Und warum habe ich sie seit drei Jahren nicht mehr besucht? Das letzte Mal war ich nach meiner Abschlussfeier an der Universität bei ihr gewesen, ehe ich meine Stelle bei der HSBC angetreten habe.
    Aber vielleicht ist es ja noch nicht zu spät? Sie sitzt dort in Hamburg in ihrem Seniorenstift im Rollstuhl, und soweit ich weiß, hat sie trotz der langsam fortschreitenden Demenz des Alters durchaus noch ihre klaren Momente.
    Lorena sprang auf. Sie musste ihre Großmutter sehen. So schnell wie möglich!
    »Ich muss die Lady sehen«, sagte Raika und versuchte sich an einem würdevollen Blick.
    Der Butler ließ sich nicht beeindrucken. Er war zwar so etwas wie ein Sklave der Lady, aber das hieß noch lange nicht, dass er sich auch von anderen Nachtmahren herumkommandieren ließ. Zumindest nicht von Raika, wie diese erfahren musste.
    »Mir ist nicht bekannt, dass sie nach Ihnen geschickt hat«, sagte er durch den Türspalt, ohne den Flügel weiter zu

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