Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
Es roch nach Kartoffelgratin, das Großmutter für meinen Vater warm gemacht hatte. Wenn ich vielleicht doch ein wenig davon essen würde? , überlegte ich. Nur eine kleine Portion, um das Magenknurren zu beruhigen?
Leise zog ich die Tür auf und schlich in die Küche. Die Wohnzimmertür war nur angelehnt. Ich huschte in die Küche, füllte mir einen großen Teller mit dem noch lauwarmen Gratin und wollte gerade in mein Zimmer zurück, als ich Großmutter sagen hörte: »Sie braucht mich!«
Es war der scharfe Ton, den ich von ihr nicht gewöhnt war und der mich innehalten ließ. Ich hielt den Atem an und lauschte.
»Sie ist vierzehn. Es dauert kaum mehr ein paar Jahre, dann wird sie das Haus verlassen«, erwiderte mein Vater. »Sie kommt schon zurecht.«
»Das hoffst du, nicht wahr?«
»Es ist eine Tatsache, vor allem, wenn sich ihre Noten weiterhin so rapide verschlechtern wie in diesem Halbjahr. Dann wird ihr gar nichts anderes übrig bleiben, als nach der Zehnten abzugehen und sich eine Lehrstelle zu suchen.«
Wie kalt seine Stimme klang, als ob er über jemand reden würde, den er gar nicht kannte. Mir lief ein eisiger Schauder über den Rücken.
»Lorena hat innerhalb eines halben Jahres ihre Schwester und ihre Mutter verloren … Was erwartest du?«, erwiderte meine Großmutter fast ebenso kühl.
»Danke, dass du mich daran erinnerst. Ja, meine Tochter und meine Frau, die ich beide sehr geliebt habe, sind tot.«
»Und du gibst Lorena die Schuld?«
Er zögerte, doch dann brach es aus ihm heraus. »So ist es doch, oder etwa nicht? Das hat die Polizeiuntersuchung ergeben.«
»Du tust gerade so, als ob sie ihre Mutter ermordet hätte. Sie hat vielleicht mit ihr gestritten, ja, und dann ist es zu diesem tragischen Unfall gekommen. Und auch bei Lucy kannst du ihr keinen Vorwurf machen. Sie hat immer gut auf sie aufgepasst. Es waren unglückliche Umstände. Wir wissen nicht genau, was passiert ist, ob sie von allein weggelaufen ist oder ob sie jemand mitgenommen hat.«
»Nein, das werden wir vermutlich nie erfahren«, sagte mein Vater mit solch tiefem Schmerz, dass er auch mir durchs Herz schnitt. »Ich habe alles verloren«, fügte er hinzu, und ich spürte, dass er es so meinte.
Ich hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und konnte gerade noch verhindern, dass mir der Teller aus den Händen rutschte.
»Bitte, Thomas, überlege es dir noch einmal. Ich ziehe gern zu euch und kümmere mich um sie. Sie wird ihren Weg gehen und die schweren Schicksalsschläge irgendwann überwinden.«
»Indem wir sie einsperren?«, gab er sarkastisch zurück.
Ich war verwirrt.
»Nein, du siehst das falsch. Vertrau mir einfach. Sie braucht mich jetzt dringend – und sie braucht einen Vater, der sie liebt!«
»Hm.«
»Du darfst sie nicht weiter ignorieren. Ich fürchte Schlimmes, wenn du sie einfach sich selbst überlässt.«
»Ach, noch Schlimmeres, als bisher geschehen ist? Was sollte das denn sein? Ich kann mir nichts vorstellen, was uns jetzt noch passieren könnte«, stieß er hervor.
»Thomas, hörst du dir eigentlich selbst zu? Ich verstehe deine Trauer um die, die du verloren hast, doch Lorena ist deine Tochter, die dich braucht und die du lieben solltest. Willst du das Einzige vertreiben, was dir geblieben ist?«
Er stöhnte. »Ich kann nicht! Wenn ich sie ansehe, dann stelle ich mir vor, wie sie Susanne die Treppe herunterstößt oder ihre Schwester in den Teich wirft und elendig ertrinken lässt. War sie ihr nicht schon immer im Weg? Hat sie uns nicht von Anfang an ihre Eifersucht gezeigt? Das ist mir nach Susannes Tod endlich klar geworden.«
Mir entschlüpfte ein Laut des Entsetzens. Der Teller rutschte mir aus den Händen, und Tränen schossen mir in die Augen. Ich rannte in mein Zimmer, schlug die Tür zu und drehte den Schlüssel um. Ich wusste, dass Großmutter mich gehört hatte und mir folgen würde, um mich zu trösten, aber es gab keinen Trost. Ich hörte, wie die Klinke runtergedrückt wurde. Ein kleiner Teil von mir vernahm die Stimme der Großmutter, doch ich reagierte nicht. Der größere Teil hatte sich in den Strudel gestürzt, der mich immer tiefer herabzog, bis Zorn und Verzweiflung so stark geworden waren, dass ich die Decke von mir warf und vor den Spiegel trat. Ich kniff die Augen zusammen und sah nur noch das wilde, schöne Wesen vor mir, das tief in mir wohnte. Es wollte heraus! Ich spürte es mit jeder Faser. Mein Körper zuckte und wand sich, bis die Wandlung
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