Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
wenn ich mich wandeln musste.«
Else Maschek stöhnte. »Wir dürfen nicht darüber sprechen.«
»Nein? Warum nicht? Wer könnte es uns verbieten?«
Ein Ruck durchlief den Körper ihrer Großmutter, dann richtete sie ihren Blick wieder auf Lorena. Er war fest, und sie sah die Entschlossenheit darin.
»Vielleicht hast du recht. Sprechen wir darüber. Vielleicht hätten wir das schon viel früher tun sollen. Was bedrückt dich, mein Kind?«
»Was passiert in diesen Nächten«, wiederholte Lorena. »Ich meine mit mir? Was geht da vor sich? Woher kommt das und warum diese Wandlung?«
Else Maschek sah ihre Enkelin lange an, dann schüttelte sie den Kopf. »Das kann ich dir nicht sagen, mein Kind. Weder woher das kommt, noch warum es geschieht. Ich weiß nur, dass es diese Wesen gibt, von denen der größte Teil der Menschheit nie etwas gehört hat und die dennoch seit Generationen unter uns leben. Ihr Leben ist geprägt von Lügen und Geheimnissen und viel Dunkelheit.«
Lorena starrte ihre Großmutter mit weit aufgerissenen Augen an. »Diese Wesen? Du meinst, es gibt noch andere wie mich?«
Die alte Frau nickte. »Meine Mutter war ein Nachtmahr. Aus ihrem Mund hörte ich dieses Wort zum ersten Mal. Ein einziges Mal, als sie mich schwören ließ, niemals darüber zu sprechen! Sie sagte mir, sonst würde ich mich und sie in tödliche Gefahr bringen. Damals wusste ich nicht, was sie damit meinte, aber ich gehorchte. Meine Mutter wandelte sich von Zeit zu Zeit, so wie du. Dann war sie die ganze Nacht über verschwunden. Ich weiß nicht, was sie in diesen Stunden tat, sie hat es mir nie erzählt, und ich habe nicht gewagt, sie danach zu fragen.«
»Und du?«, unterbrach Lorena. »Hast auch du dich jemals gewandelt?« Sie hielt den Atem an, doch ihre Großmutter schüttelte den Kopf.
»Nein, anscheinend wird es nicht an jede Generation weitergegeben. Auch deine Mutter war kein Mahr. Nein, sie wusste nicht einmal, dass es so etwas gibt. Ich denke, sie hat nie von deinem Leid erfahren.«
Lorena schluckte. Bilder jener letzten, verhängnisvollen Nacht stiegen in ihr auf. Sie waren verwirrend. Einzelne Sequenzen, zwischen denen immer wieder Teile fehlten, die sie mehr verwirrten, als Klarheit zu schaffen. Bilder, die sie lieber nicht sehen wollte. Doch sie waren so gnädig, das Schlimmste zu verbergen. Noch immer sah sie nur Schwärze, wenn sich die Nacht ihrem schrecklichen Höhepunkt näherte. Sie konnte nicht sehen, was geschehen war, und dennoch musste sie glauben, dass es sich so zugetragen hatte. Hatte die Kripo den Fall nicht untersucht und unzweifelhaft festgestellt, dass sie allein die Schuld daran trug? Sie hatte ihre eigene Mutter umgebracht!
Lorena kniff die Augen zu und schüttelte heftig den Kopf. Sie wollte nicht mehr an diese Nacht denken. Sie konnte nichts tun, um es wiedergutzumachen. Es brachte nichts, wenn sie sich immer wieder damit quälte. Sie versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Sie musste noch so viele Fragen stellen, die sie schon lange quälten und auf die sie keine Antworten fand.
»Hat sie denn nie etwas bemerkt?«, fragte sie leise.
Ihre Großmutter zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht. Du hast dir ja auch jede Mühe gegeben, es vor allen zu verbergen.«
»Ja, schon, doch sie war immerhin meine Mutter. Sie hätte es merken müssen!«
Else Maschek schloss für einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie erschöpft aus. »Vielleicht hast du recht. Eine Mutter müsste den stillen Hilfeschrei hören können, aber wie soll man das Unfassbare begreifen? Und dann verschwand Lucy, und deine Mutter war in ihrer Trauer gefangen. Hätte ich etwas bemerkt, wenn ich nicht gewusst hätte, dass es so etwas Fantastisches gibt? Vermutlich nicht. So aber erkannte ich die Zeichen – wenn vielleicht auch zu spät –, und ich ahnte um die Gefahr in diesen Nächten.«
»Du hast mich eingeschlossen!«, rief Lorena vorwurfsvoll.
»Es war nur zu deinem Besten.«
»Du meinst, um andere vor mir zu schützen«, sagte sie bitter.
»Um dich selbst zu schützen!«, widersprach ihre Großmutter sanft. »Was hätte ich denn sonst tun sollen?«
»Mit mir darüber sprechen!«
Sie schwiegen und sahen einander lange an.
Dann endlich brach Else Maschek die Stille. »Ja, vielleicht hätte ich das tun sollen. Vielleicht hätte ich nicht auf sie hören sollen.« Ihre Großmutter hob abwehrend die Hände. »Ich habe einmal meine Mutter bei ihrer Wandlung heimlich beobachtet. Es
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