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Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin

Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin

Titel: Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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schaudert mich noch immer, wenn ich daran denke. Sie hat mich erwischt und war so zornig, dass ich fürchtete, sie könne mir in dieser Gestalt, in der sie nicht sie selbst war, etwas antun. So war es das große Schweigen. Ich glaube, nicht einmal mein Vater hat je begriffen, was da vor sich ging. Aber vielleicht hat er etwas gespürt. Es hat ihn auf irgendeine Weise verändert. Als ich noch klein war, habe ich ihn als sanften, liebevollen Mann in Erinnerung, doch mit den Jahren wurde er jähzornig, sodass ich mich aus Furcht oft vor ihm versteckte. Bis er dann früh starb.« Sie seufzte tief. »Eine Schlägerei in der Kneipe. Irgendwer zog ein Messer, und am Ende waren zwei Männer tot. Da war ich gerade zwölf. Meine Mutter war untröstlich. Sie gab sich für diesen Vorfall die Schuld, obgleich ich mich zu erinnern glaube, dass sie in dieser Nacht zu Hause war. Auch sie hat sich danach verändert. Sie zog sich immer mehr von mir zurück und ließ mich in der Obhut einer Nachbarin. Sie selbst war stets auf Reisen. Irgendetwas trieb sie an. Sie war den Rest ihres Lebens auf der Suche. Ob sie gefunden hat, was sie suchte …?« Wieder seufzte sie. »Ich kann es dir nicht sagen. Ich weiß nicht einmal, wie alt sie geworden ist und wann und wo sie starb. Es gibt kein Grab, das ich hätte besuchen können. So vieles, was diese Wesen umgibt, liegt im Dunkeln, und wenn man versucht, tiefer zu graben, trifft man immer nur auf Schweigen und Angst – und auf den Tod. Vermutlich war es meine Schuld. Ich hätte meiner Mutter glauben sollen und wissen, dass sie keine Einmischung, ja, nicht einmal das Wissen um sie tolerieren. Ach, so viel Leid. So viel Tod. Dein Leben hätte ganz anders verlaufen können. Hätte anders laufen müssen!«
    Ihr Blick verschleierte sich und glitt in die Ferne. Sie legte den Kopf schief, als lausche sie dem Tschilpen der Spatzen, die von einem Baum zum anderen flatterten.
    »Wie spät ist es, mein Kind?«, fragte sie plötzlich mit seltsam hoher Stimme. »Müsste dein Vater nicht schon längst zurück sein? Er holt dich ab, nicht wahr? Er hat mir bestimmt gesagt, wann er kommt, aber ich kann mich nicht mehr erinnern.«
    Lorena blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten. Sie stand auf, kniete sich vor die alte Frau und umfasste die knochigen Hände.
    »Großmutter, Papa ist schon viele Jahre tot!«
    »Ja?«, piepste sie mit kindlicher Stimme, die Lorena bis ins Mark schmerzte.
    »Warum hat mir das keiner gesagt? Und wo ist deine Mutter? Ich werde Susanne rügen, wenn sie kommt, auch wenn sie meint, mir würde das nicht zustehen.«
    »Großmutter, auch Susanne ist schon sehr lange tot. Erinnerst du dich denn nicht mehr?«
    Der Blick kehrte für kurze Zeit aus der Ferne zurück und fokussierte Lorena, doch die Hoffnung trog.
    »Sie sind gekommen und haben das Kind geholt«, sagte sie mit düsterer Stimme. »Sie töten alle, die ihnen im Weg sind, aber ich habe gesagt, dich werden sie nicht bekommen. Zur Strafe sitze ich nun in diesem verdammten Stuhl und komme hier nicht wieder raus.«
    »Gehen Sie jetzt.« Eine Stimme ertönte von der offenen Terrassentür her. Lorena wandte sich um und sah die Pflegerin in der Tür stehen.
    »Frau Maschek kann sich nicht mehr so lange am Stück konzentrieren. Wenn sie müde wird, wandern ihre Gedanken in die Vergangenheit. Vielleicht ist sie morgen wieder klarer. Jetzt sollte sie erst einmal etwas essen und ein wenig schlafen.«
    Lorena nickte widerstrebend. Sie erhob sich und drückte ihrer Großmutter einen Kuss auf die Stirn. »Ich komme morgen wieder, ja?«
    Der Blick der Großmutter huschte unstet umher. »Ja, Mama, ich werde brav sein, ich verspreche es dir«, antwortete sie mit kindlicher Stimme.
    Lorena nickte, strich ihr über das Haar und wandte sich ab. Ihr Herz wog schwer, als sie durch den tristen, verlassenen Flur zum Ausgang zurückging.
    Warum nur hatte sie so viel wertvolle Zeit vergeudet? Warum hatte sie die einzige Überlebende hier ihrem Schicksal überlassen?
    Sie wusste die Antwort. Sie hatte sich eingebildet, sie vor sich selbst und dem wilden Wesen zu schützen … Doch war das nicht nur eine billige Ausrede gewesen, ihr altes Leben mit all den schmerzlichen Erinnerungen hinter sich zu lassen, um – wie Phoenix aus der Asche – in England ganz neu zu beginnen? Ein neues Land, eine neue Familie, eine neue Schule. Keiner wusste von den Katastrophen, die sie innerhalb von zwei Jahren heimgesucht hatten. Keiner sah sie mit diesem anklagenden

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