Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
gesteuert? Musste sie in die Nacht hinaus, um Männer zu jagen? Um sie sich im Akt der Vereinigung untertan zu machen? Warum?
Weil es Spaß macht und befriedigt!
O nein! So einfach war das nicht.
Weil ich dazu geschaffen bin, Macht über Männer auszuüben!
Ja, vielleicht ging es hier in diesem Spiel um Macht, doch die Frage war: Wer hatte Macht über wen? Der Mahr über die Männer oder der dunkle Trieb in ihr über sie?
Nein! Nichts und niemand hatte Macht über sie. Sie nährte sich von der Magie der Finsternis und konnte frei entscheiden, was ihr gefiel und was nicht. Sie nahm sich, was sie wollte, und verzichtete, wenn sie nicht wollte.
Und im Moment stand ihr der Sinn nicht nach Sex, daher würdigte sie die beiden Männer keines Gedankens mehr, sondern verließ den Garten und schwang sich in die Nachtluft.
Es war ihr schnell klar, wohin sie sich aufmachte. Der Duft der Erinnerung zog stark an ihrer Seele und führte sie über Wiesen und Wälder und kleine verschlafene Ortschaften hinweg. Bald schon erkannte sie einzelne Häuser und Plätze wieder und sah, wie viele neue Gebäude seit ihren Kindertagen gebaut worden waren. Dort war ein Feld verschwunden, in dem sie als Kinder Kränze aus Kornblumen geflochten hatten, hier fehlten der Spielplatz und der Bach mit den Obstbäumen. Stattdessen breitete sich ein Neubaugebiet mit Doppelhäusern aus, die sich glichen wie ein Ei dem anderen. Lorena überflog winzige, umzäunte Gärten mit ein paar gestutzten Büschen, ein wenig Gras und ein paar Blütenstauden.
Dann tauchte die Straße unter ihr auf. Von hier oben glich sie einer grauen Schlange, sie sich durch das Gras wand. Sie sah die Bäume, die bereits in ihren Träumen aufgetaucht waren. Lorena wäre am liebsten abgedreht, doch sie zwang sich, der Straße bis zu der scharfen Biegung weiter zu folgen.
Hier war es geschehen. Hier war der Wagen von der reifglatten Fahrbahn abgekommen und gegen den Baum geprallt.
Doch da war kein Baum. Lorena blinzelte. Nein, sie irrte sich nicht. Das war die Stelle, und dort hatte die Pappel gestanden.
Hatte man sie zur Strafe gefällt? Weil sie ein Menschenleben zerstört hatte? Auge um Auge? Zahn um Zahn? Vielleicht. Jedenfalls spürte sie so etwas wie Befriedigung, als ihr Blick über die verödete Stelle glitt. Der abgesägte Stumpf diente nur noch den Baumpilzen als Nährboden.
Lorena wandte sich ab und flog weiter. Sie folgte der Straße bis zu dem Feldweg, der sie zum See brachte. Sie landete am Ufer und fühlte, wie die scharfen Schilfblätter in ihre nackten Füße schnitten, doch das machte ihr nichts aus. Zäher Schlamm quoll zwischen ihren Zehen hervor, als sie am Ufer entlangschritt. Zwei Sumpfhühner, die sich in ihrem Schlaf gestört fühlten, fiepten aufgeregt. Lorena blieb stehen und schaute über den schwarzen Spiegel zum anderen Ufer hinüber.
Wie viele Gefühle löste dieser Platz in ihr aus. Einst war er ein Ort der Zuflucht gewesen, der kindlichen Freude und des Trostes, wenn sie vor dem Streit daheim hier hinaus geflüchtet war. Tränen und böse Worte gab es viele. Nachdem Lucy geboren worden war. Vorher musste stets heitere Freude im Haus geherrscht haben. Zumindest gaukelten ihr das die schönen Erinnerungen vor. Sie war Mamas und Papas Liebling, und für beide hatte es nichts Schöneres gegeben, als sie zum Strahlen zu bringen.
Und dann kam Lucy. Lorena war längst nicht mehr süß und niedlich anzusehen. Vielleicht waren es schon die ersten Boten der körperlichen Veränderung, die sie zu Trotz und Widerstand neigen ließen. Oder es lag an diesem Eindringling, der so unerwartet in ihre Welt einbrach und alles auf den Kopf stellte. Plötzlich standen Papa und Mama jede freie Minute um die Wiege dieses hässlichen, verschrumpelten Wesens, das nichts konnte, außer zu schreien und in die Windel zu machen, doch sie taten, als sei dies das größte Glück auf Erden. Lorena dagegen war von nun an die Große, die Vernünftige, der man mit dieser plumpen Schmeichelei stets etwas auftrug, zu dem sie gerade keine Lust hatte: den verlorenen Schnuller suchen, das Plüschtier aufheben, die Milchflasche holen oder einfach nur leise sein, um Lucys Schlaf nicht zu stören. Nein, sie hatte ihre kleine Schwester nicht willkommen geheißen und musste oft genug hören, dass Eifersucht und Neid keine Tugenden seien.
Vielleicht machten ihr diese ständigen Ermahnungen ihre kleine Schwester noch mehr verhasst. Sie wusste es nicht. Nur Großmutter hatte sich mit
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