Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
Lucys Geburt nicht verändert. Sie zeigte nach wie vor an allem Interesse, was Lorena ihr zeigte und erzählte, wenn sie zu Besuch kam. Sie gab ihr stets das Gefühl, wichtig zu sein, ohne dabei die Kleinere zu vernachlässigen.
Heute empfand Lorena Trauer, wenn sie an Lucy dachte, und die gleichen Schuldgefühle, die sie beim Andenken an ihre Mutter überfielen. Wie es wohl heute wäre, wenn sie noch leben würde? Würden sie sich lieben und nicht nur Schwestern von Geburt her sein? Wären sie Freundinnen, die einander vertrauten? Sich einander anvertrauten?
Wohl kaum.
Ein schmerzhaftes Gefühl von Sehnsucht überfiel sie. Was für ein schöner Traum. Hätte sie Lucy davon erzählen können, was sie wirklich war? Von ihren Ängsten und Zweifeln, aber auch von dem Gefühl der Macht und der unbändigen Lust, die sie bei der Wandlung überfielen? Von all den bösen Dingen, die sie in dieser Gestalt getan hatte?
Lucy würde sich von ihr abwenden und sie verabscheuen. Wer wollte schon eine Missgeburt als Schwester!?
Missgeburt?, empörte sich die Stimme des Nachtmahrs in ihr. Sieh ins Wasser und betrachte dein Spiegelbild. Du bist schöner, als es Lucy je hätte werden können.
Schön? Ja, das war sie. Überirdisch schön, aber vielleicht gerade deshalb eine Missgeburt.
Blödsinn!
Sie ignorierte den Einwand und strich weiter am Ufer entlang, während ihre Gedanken zu jener ersten verhängnisvollen Nacht zurückwanderten.
Es war einer dieser schwülen Spätsommerabende im August. Eine düstere Gewitterfront schob sich von Westen her über den Himmel. Langsam wurde es dunkel, und man sehnte sich nach einem kühlen Luftzug. Ich stand vor dem Spiegel und probierte ein paar Kleider aus, die Sabrina mir geliehen hatte, als Mama ins Zimmer kam, um mich um einen Gefallen zu bitten. Eine ältere Freundin liege krank im Bett, und sie wolle nach ihr sehen.
»Ja und?«
»Könntest du währenddessen auf Lucy aufpassen? Sie spielt noch so schön. Ich bringe sie ins Bett, wenn ich zurück bin.«
Ich hatte nicht gerade erfreut auf die Bitte meiner Mutter reagiert. Ich knurrte lediglich etwas, aus dem man vielleicht meine Zustimmung hätte herauslesen können. Jedenfalls hatte Mama daraufhin das Haus verlassen.
Dann bin ich noch einige Zeit vor dem Spiegel gestanden. Inzwischen war es dunkel geworden, denn ich setzte all meinen Willen ein, um mich zu wandeln und die mir sonst zu engen Kleider über den wundervollen Frauenkörper zu streifen. Ich drehte mich vor dem Spiegel hin und her und gefiel mir sehr.
Da ließ ein Krachen mich innehalten. Die strahlende Gestalt im Spiegel verblasste, bis er wieder das junge Mädchen zeigte. Eine Tür schlug. Einen Fluch auf den Lippen, lief ich in den Flur.
»Lucy? Was zum Teufel machst du schon wieder?«
Ich rannte die Treppe hoch in Lucys Zimmer. Da lagen die Barbiepuppen und das ganze rosa Plastikzeug überall auf dem Boden verteilt, doch von meiner kleinen Schwester war nichts zu sehen.
»Lucy? Wo bist du? Ich habe keine Lust, mit dir Verstecken zu spielen. Also komm sofort raus!«
Ich lauschte. Nichts, nur Stille im Haus. Draußen grollte in der Ferne der Donner. Dann schlug wieder eine Tür. Eine Böe schien durch das Haus zu rauschen. Ich spürte, wie es mir eiskalt über den Rücken rann. Ich sprang die Treppe hinunter und lief ins Wohnzimmer, in die Küche, in Papas Arbeitszimmer. Lucy war nirgends zu finden.
»Lucy, das ist nicht lustig. Komm sofort raus, sonst setzt es was hinter die Ohren!«, rief ich, obgleich ich bereits ahnte, dass Lucy mich nicht hören konnte. Dennoch durchsuchte ich noch einmal das obere Stockwerk, ehe ich ins Wohnzimmer zurückkehrte. Ein Blitz erhellte den Raum, dann ließ ein Krachen den Boden erzittern. Ein Windstoß schob die Terrassentür auf und ließ sie dann mit einem Knall wieder zufallen. Die Scheiben klirrten.
Langsam ging ich auf die Tür zu. Meine Mutter hatte sie ganz sicher geschlossen, ehe sie das Haus verlassen hatte. Ich schob die Tür zu und ließ den Riegel einrasten. Konnte Lucy diese Tür alleine öffnen? Das war nicht möglich. Oder doch?
Wieder schlug eine Tür. Ich eilte in den Flur hinaus und in den Windfang. Die Haustür stand sperrangelweit offen, obwohl meine Mutter sie abgeschlossen haben musste. Ich rannte nach draußen, rief Lucys Namen. Wo zum Teufel war sie hingelaufen? Wo konnte sie sich vor dem Gewitter verstecken? Sie musste Angst haben. Vermutlich kauerte sie sich irgendwo zusammen und zitterte vor Furcht.
Weitere Kostenlose Bücher