Nachtnelken - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners vierter Fall) (German Edition)
einem schnellen Blick, dass ihre Mutter noch nicht wiederkam, bevor sie antwortete: »Ilona war bloß verknallt. In einen aus der Neunten. Ich kenne seinen Bruder.« Kristin wurde rot. Hastig fuhr sie fort: »Er wohnt in Wiepke. Es ist noch nichts gelaufen mit den beiden, dazu war Ilona viel zu schüchtern. Der wusste ja noch nicht einmal, dass sie auf ihn steht. Ilona wollte ihm erst nach den Ferien ... Aber es wäre ihr furchtbar peinlich gewesen, wenn er das gewesen wäre.«
»Was meinst du?« Judith Brunner konnte zwar dem pubertären Gefühlsleben der Mädchen folgen, fand die letzte Bemerkung jedoch erklärungsbedürftig.
»Na, wenn er sie da gefunden hätte. So nackig.«
Teenager! Was ging nur in deren Köpfen vor sich?! Da hatte Judith ihre Antwort.
Grambow fragte: »Hat der Junge auch einen Namen?«
Kristin konnte ihn dem Ortspolizisten gerade noch zuflüstern, bevor ihre Mutter mit den Getränken um die Ecke kam.
Judith Brunner fragte gut hörbar: »Wir haben bei Ilona einen Freundschaftsring gefunden. Hatte sie den mit dir? Deiner sieht genauso aus.«
»Ja. Den haben wir uns bei der letzten Klassenfahrt gekauft.« Kristin hielt ihre rechte Hand hoch.
Marianne Lindner verteilte die Gläser und goss Wasser aus einem Keramikkrug ein. »Bitte.«
»Wart ihr für Sonnabend verabredet?«, fragte Judith Brunner weiter.
Kristin rollte leicht genervt mit den Augen. »Wir wollten. Aber dann hatten wir unser Treffen kurzfristig auf heute verschoben. Ilona musste nämlich Sonnabend erst artig mit ihrer Tante spazieren gehen und danach hatte ich dann plötzlich keine Zeit.« Ein strafender Blick traf ihre Mutter. »Ich musste unbedingt und unaufschiebbar meine Fenster putzen.«
»Das ist dir auch wirklich gut gelungen«, gab Marianne Lindner ungerührt zurück, »und das schon nach nur drei Anläufen.«
Offenbar hatte diese Hausarbeit zu einiger Missstimmung zwischen den beiden geführt, und es schien Kristin immer noch zu ärgern, denn sie schaute weiter beleidigt. Dann schleuderte sie ihrer Mutter entgegen: »Hätte ich zu Ilona raus gedurft, wäre sie jetzt nicht tot.«
~ 29 ~
Während Walter den versprochenen Kaffee zubereitete, hatte Laura rasch alle ihre Fotos geholt. Nun lagen die Abzüge in Walters Büro auf dem Boden aus. Dutzende kleine Stapel.
»Wie wollen wir vorgehen?«, deutete er, an seinem Schreibtisch sitzend, mit dem Kaffeebecher in der Hand auf die vielen Aufnahmen.
Doch nur Wilhelmina, die sich äußerst behaglich schnurrend ihr Köpfchen an seinem Telefonapparat rieb, blickte auf und schien bereit, darüber nachzudenken.
Laura kniete hingegen auf allen vieren auf den Dielen und betrachtete konzentriert die Fotografien. Dann griff sie nach einem Stapel, setzte sich auf die Fersen und blätterte die Fotos durch. Sie nahm eines zur Hand und las ihre Notizen auf der Rückseite. »Ich habe mich gleich erinnert. In Gardelegen, am Haus Holzmarkt 6, gibt es eine recht unscheinbare Balkeninschrift. Sie ist schwer zu lesen, da die Buchstaben nicht angemalt sind und das Holz verwittert ist. Hier«, sie lehnte sich zurück und gab Walter ein Foto in die Hand, »aus diesem Winkel habe ich es ganz gut hinbekommen.«
»Ich kann kein Wort erkennen«, gab Walter unumwunden zu und hockte sich neben Laura auf den Boden.
Sie las ihm langsam vor: » Verrlas mich nicht. Herr mein Gott, sey nicht ferne von mier. E[i]le mier be[y]zu[sten] Herr meine hilf. «
»Noch jemand mit diesem Spruch!«, bemerkte Walter. »Wovor hatten die nur alle Angst? Steht das auch noch da?«
»Nein. Eine ganze Geschichte wird da nicht erzählt. Aber die Hausbesitzer, die sich den Spruch ausgesucht haben, ließen stattdessen ihre Namen einschnitzen.« Laura las wieder langsam und zeigte Walter dabei die jeweiligen Buchstaben: »psalm 38 an Claus Gille und Elisabeht Kufers, Anno 1692, II August.«
»Was mag den beiden wohl passiert sein, dass sie ihr Haus mit so etwas verzierten?«, überlegte Walter laut.
»Ich denke eher, die beiden haben etwas Schlimmes angestellt. Der Psalm 38 gilt nämlich als Bußpsalm. Du hast doch sicher irgendwo eine Bibel zu stehen?«, schaute sie suchend auf Walters übervolle Bücherregale, die die lange Wand seines Büros zierten.
»Moment.« Walter stand auf und betrachtete eines der oberen Fächer. Da er vor vielen Jahren den Bestand der aufgelösten, alten Gemeindebibliothek übernommen hatte, war sein Bücherbestand erstaunlich vielfältig. So besaß er mehrere unterschiedliche
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