Nachtnelken - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners vierter Fall) (German Edition)
aufsuchen musste, die einen Tag zuvor bei einem Raubüberfall ums Leben gekommen war. Sie hatte ihn beim Sortieren seiner Briefmarkensammlung angetroffen und es mehr als eine halbe Stunde lang nicht über sich gebracht, ihn in seinen ausufernden Erläuterungen über die diversen Sammelgebiete zu unterbrechen. Erst, als er beim ziellosen Blättern in einem der vielen Alben auf einen seltenen Zusammendruck stieß, den er von seiner Frau zu einem Geburtstag geschenkt bekommen hatte, war es ihr gelungen, etwas über die Frau zu erfahren. Doch nach einigen wenigen mit zittriger Stimme gegebenen Antworten wandte sich der aufrichtig trauernde Mann wieder seinen Marken zu. Warum also nicht Silber putzen?
Clara Eichner deutete auf eine schlichte Bretterbank, die in der Nähe neben einem Sägebock stand. »Setzen Sie sich doch. Haben Sie schon …« Dann legte sie ihre Hände vors Gesicht.
Judith Brunner ließ ihr Zeit, sich zu beruhigen. »Nein. Ich kann Ihnen noch nicht mehr berichten. Aber wir haben viele Spuren sichern können.« Die grausigen Details wollte sie der Frau ersparen. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen? Es ist für unsere Ermittlungen wichtig, mehr über den Sonnabend zu erfahren.«
»Ist es da passiert? Schon am Samstag?«
»Ja«, antwortete Judith Brunner. Irgendwie war sie selber erleichtert gewesen, dass Wachtmeister Grilles Nachlässigkeit dem Verbrechen nicht Vorschub geleistet hatte. »Schon am späten Nachmittag. Bei Ihrem ersten Anruf in meiner Dienststelle war Ilona bereits tot.« Das sollte keine Entschuldigung für die versäumte Suche sein – die gab es in keinem Fall –, sondern Clara Eichner trösten. Die Frau hätte nichts tun können, um das Kind zu retten.
Judith Brunner begann: »Ich möchte gerne noch einmal auf Ihren Spaziergang von vorgestern zurückkommen. Haben Sie dabei jemanden getroffen?«
Clara Eichner schüttelte den Kopf. »Getroffen? Nein. Von Weitem habe ich die Wilkes gesehen, als wir am Kiosk waren und wieder aufbrachen. Sie gingen Richtung Dorfplatz. Ach, und Otto Ranke führte seinen Hund spazieren.«
»Seinen Hund? Was für ein Hund?« Judith Brunner musste dieses Detail erfragen. Wer weiß, vielleicht gab es tatsächlich einen Zusammenhang mit dem Schäferhund vor Waltraud Zabels Haus?
Clara Eichner zuckte mit den Schultern: »Ich weiß nicht, wie die heißen. So ein zotteliger, alter Köter, mit langem Fell. Er hinkt ein wenig.«
Ernst Grambow nickte wissend und machte sich Notizen.
Judith Brunner versuchte etwas anderes. »Wie kam Ilona in der Schule zurecht?«
»Es gab keine Probleme. Sie war lange eine eher mäßige Schülerin, doch im letzten Schuljahr hatte sie sich erheblich verbessert. Sie war fleißig. Besonders liebte sie Aufgaben, die ein sichtbares Ergebnis brachten.«
»Wie das Pflanzensammeln?«
Clara Eichner nickte zaghaft und nestelte in ihrer Schürzentasche nach einem Taschentuch. Sie knüllte es intensiv in den Händen.
Judith Brunner wartete etwas, bevor sie fragte: »Hat Ilonas Vater sich schon gemeldet?«
Nur ein Kopfschütteln, begleitet von einem Blick auf den Ortspolizisten. »Ich konnte noch nicht mit ihm reden. Aber Herr Grambow hat seinem Büro Bescheid gegeben. Ich erwarte eigentlich, dass er jeden Moment eintrifft.«
»Wir müssen mit Ihrem Bruder sprechen. Richten Sie ihm das bitte aus? Er möchte sich so schnell wie möglich bei uns melden; ich komme auch gern noch einmal zu Ihnen.«
~ 28 ~
Als sie beim Haus der Familie Lindner ankamen, war von rechts lautes Geschimpfe zu hören: »Dat Ding rennt schon wieder durch den janzen Jarten. So ’n Mist!«
Judith Brunner und Ernst Grambow liefen um das Haus herum und sahen Marianne Lindner auf der Wiese neben dem Hof stehen, wo sie beim Wäscheaufhängen war. Auf einigen dicken ungehobelten Brettern hoppelte eine kleine Schleuder, deren Gummiunterlage das Gerät in keinster Weise daran hindern konnte, sich auf den Weg Richtung Hühnerstall zu machen.
Den einen Arm voller Bettwäsche, im anderen den Klammerkorb, war Marianne Lindner nicht in der Lage, dem Bewegungsdrang der Wäscheschleuder Einhalt zu gebieten. »Wieso baut man eine Schleuder, die wegrennt?« Sie sah ihren Ortspolizisten an, als müsste der tatsächlich die Antwort darauf wissen. Oder wurde er, als Vertreter des männlichen Geschlechts, prinzipiell für die Konstruktionsfehler an technischen Geräten haftbar gemacht?
Judith Brunner musste grienen. Sofort kamen Erinnerungen an die
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