Nachtnelken - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners vierter Fall) (German Edition)
sorgte und wollte ihm die Gelegenheit zu reden geben. »Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung, doch ich habe im Krankenhaus noch Beweismaterial bekommen, das ich gleich in unserem Labor abliefern wollte«, erklärte sie Grambow, der beschwichtigend abwinkte.
»Wie kommen Sie zurecht?«, fragte sie ihn, als sie sich gesetzt hatten.
»Ich? Na ja. Ich habe kaum geschlafen. Gestern Abend war Marianne Lindner noch bei mir. Sie erinnern sich sicher, die Mutter von Ilonas Freundin. Sie war völlig fertig, als ich ihr bestätigen musste, was sie unmittelbar nach der Rückkehr von ihrem Ausflug von den Nachbarn zu hören bekommen hatte. Sie konnte es kaum glauben, was mit Ilona passiert war … Sie bleibt heute zu Hause, Kristin auch. Wir können jederzeit hingehen.« Er stockte kurz. »Eigentlich ist alles recht ruhig, seltsam nicht? Ich hatte mit mehr Aufregung gerechnet. Aber die Leute sind vielleicht noch zu geschockt. Heute mussten dann auch wieder alle zur Arbeit. Hier, ich habe die letzten Befragungsergebnisse der Bereitschaftspolizei zusammengefasst. Die sind nun fast durch mit unserem Dorf.« Er gab ihr die Unterlagen, ging zu der Geländekarte und zeigte Judith Brunner, welche Gehöfte noch verblieben. »Sie müssten am Nachmittag fertig werden.«
»Danke. Das wäre gut. Die Spurensicherung wird allerdings auch heute noch den ganzen Tag zu tun haben«, begann Judith Brunner dann, Grambow über den Ermittlungsstand zu informieren. Als sie ihre Hypothese zum Tätertyp vortrug, sah sie empörtes Unbehagen in den Augen ihres Kollegen.
»So ein Kerl kann hier nicht wohnen! Da wäre doch schon mal was aufgefallen. Der kam vielleicht doch von außerhalb.«
Letzteres war wenig wahrscheinlich. Und Grambows Annahme, sadistische Sexualmörder würden auffallen, war leider völlig falsch. Im Gegenteil, in den meisten Fällen sind Nachbarn oder Bekannte eher überrascht, wenn sie von den Verbrechen der Täter hörten. Kaum jemand hätte ihnen solche Taten zugetraut; sie galten oft als nette, unaufdringliche, manchmal sogar hilfsbereite Mitmenschen. »Behalten Sie die Informationen bitte unbedingt für sich. Davon darf nichts nach außen dringen«, mahnte Judith Brunner abschließend eindringlich.
Grambow nickte. »Selbstverständlich.«
»Haben Sie was von Clara Eichner gehört?«
»Eine Nachbarin war heute Nacht bei ihr. Der Vater des Mädchens ist noch nicht gekommen. Ich habe aber gestern noch seine Dienststelle erreicht und über einen familiären Notfall informiert. Die wollten ihn unverzüglich herschicken. Aber wie es der Frau geht? Ich möchte mir das lieber nicht vorstellen.«
»Wir müssen trotzdem zu ihr.« Dass es eigentlich keinen triftigen Grund für den Besuch gab, wollte Judith dem Ortspolizisten nicht unbedingt auf die Nase binden. Sie hatte einfach nur vor, der Frau persönlich in ihrer Trauer beizustehen. Deshalb sagte sie forsch: »Sie kann uns helfen. Na los, gehen wir.«
Grambow erhob sich unverzüglich und hielt ihr die Tür weit geöffnet.
Die Frau, die sich gestern schon um Clara Eichner gekümmert hatte, öffnete die Haustür und sah die Polizisten skeptisch an. Dann meinte sie enttäuscht: »Es gibt nichts Neues, oder?«
Grambow bestätigte das mit einem leichten Nicken und sagte: »Wir müssen mit ihr reden.«
»Sie sitzt hinterm Haus, auf dem Hof, gehen Sie ruhig durch. Es geht ihr aber nicht besonders.«
Das hatte Judith Brunner auch nicht erwartet. Als sie Clara Eichner dann sah, war sie etwas beruhigt, denn die Frau wirkte gefasst. Sie saß an der Hauswand, auf einem alten Polsterstuhl, der irgendwann als Wohnzimmermöbel ausrangiert worden war und nun an sonnigen Tagen als Sitzgelegenheit im Freien genutzt wurde. Die Hände lagen auf ihrem Schoß und hielten ein zerschlissenes Geschirrhandtuch. Auf einem einfachen Holzhocker ihr gegenüber waren, ausgebreitet auf einer alten Zeitung, Teile eines schwarz angelaufenen Bestecks und eine halb ausgequetschte Tube mit Silberputzmittel zu sehen. »Das wollte ich schon längst mal erledigen«, erklärte Clara Eichner grußlos ihren Besuchern und deutete mit dem Tuch auf die Besteckteile, bevor sie es über die Lehne ihres Stuhls hängte.
Judith Brunner wunderte sich kein bisschen. Die Leute machten in ihrer Trauer die eigenartigsten Dinge, um den Tag zu überstehen. Das sagte überhaupt nichts darüber aus, was sie empfanden oder wie verzweifelt sie waren. Sie erinnerte sich an einen Fall, bei dem sie den Ehemann einer älteren Dame
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