Nachtnelken - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners vierter Fall) (German Edition)
nichts . Das will ich wohl wissen! Dort wohnen nur arme Schlucker, ähnlich wie in unserem Millionenviertel hier in Waldau.«
Walter stand auf, goss die Kartoffeln ab und begann, sie zu pellen. Er richtete die Mahlzeiten auf großen, flachen Tellern her und deckte den Tisch. Lauras Notizen legte er beiseite. Dabei dachte er über Meirings Kommentare nach und dann fiel es ihm plötzlich auf: Wenn man eine Linie entlang der Häuser zog, die ... Das war es: Wege, keine Straßen! »Wissen Sie, für jemanden der zu Fuß über die Dörfer unterwegs ist, wäre das der kürzeste Weg zur Fernverkehrsstraße, vor zur F 71 gewesen!«, brachte er überschwänglich heraus.
Meiring brauchte einen Moment, um Walters Gedankensprung nachvollziehen zu können. Dann war er genauso überzeugt. »Richtig.«
»Und wissen Sie auch, was vor zehn, fünfzehn Jahren mächtig in Mode kam, sogar hier bei uns in der Altmark? Das Trampen!«
~ 54 ~
Walter Dreyer nahm sich die Zeit und fuhr die Adressen der Häuser ab. Die Schäferei konnte er auslassen, da er bereits wusste, dass die Zinken nicht von Weitem zu sehen waren. Das Nachmittagslicht war ideal und er konnte die übrigen Zinken sofort erkennen. Als er vor dem letzten Haus stand, suchte er nach Gemeinsamkeiten. An all diesen Häusern kamen nicht viele Menschen vorbei. Wer sollte also diese Zeichen sehen? Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer war er, recht zu haben. Diebesbanden und Bettler? In den Siebzigern? Niemals! Das wäre kaum unerkannt geblieben und schließlich war er damals schon bei der Polizei und hätte dies in Erinnerung behalten. Er blickte nochmals auf Lauras Aufzeichnungen. Mordbrenner? Keine Spur! Herumtreiber? Eher nicht. Das wurde von den Behörden nicht geduldet. Das Trampen wurde zwar auch nicht gerne gesehen, besonders hier, nahe der Grenze, war aber kaum zu unterbinden. Gerade für viele Soldaten der Grenztruppen war das der schnellste und einfachste Weg, an den knapp bemessenen Urlaubstagen zügig und kostenfrei an ihr Ziel zu kommen. Dann musste Walter grinsen. Herumtreiber? Vielleicht doch gar nicht so falsch! Ihm stand sofort Michael Siegel vor Augen, ein Typ, der mit seinen Freunden damals gerne für Aufsehen sorgte. Er gehörte in den Siebzigern mit vielen anderen zur – ha!, Blueserszene. Wie merkwürdig sich das Wort heute anhörte! Walter musste über sich selbst lachen. Die Musik war unbestritten gut. Kerth war toll, und Engerling gefiel Walter auch. Er mochte Blues, immer schon. Und die Typen! Diese Blueser und ihre Fans. Offiziell wurden diese Männer, es waren zumeist Männer, von den entsprechenden Dienststellen gerne als Gammler bezeichnet. Lange Haare und Bart waren eben nicht nur Geschmackssache. Äußerlichkeiten waren den Bluesern wichtig, um den Willen zur Unangepasstheit zu demonstrieren, den Anspruch auf Echtheit und Ursprünglichkeit. Und, wer will nicht in Freiheit leben? Mit ihrer Auffassung waren die Männer zwangsweise bei der Staatsmacht angeeckt. Walter kannte ein paar dieser Typen, und von Michael Siegel wusste er, dass er noch in der Gegend war.
Er würde dort wohl vorbeischauen müssen, um mehr zu erfahren. Walter spürte, wie er sich seltsamerweise auf diesen Besuch freute.
Als er am frühen Abend mit stolzgeschwellter Brust zu Laura eilte, um mit seinen gewonnenen Erkenntnissen anzugeben, fand er sie im Garten vor.
Sie goss die Tomaten und ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen: »Gut, dass du kommst. Ich habe etwas für dich!«, kündigte sie an und unterbrach ihre Arbeit. »Setz dich doch«, schob sie ihm einen Gartenstuhl aus der Sitzgruppe zurecht. Aus dem Wohnzimmer holte sie ein Foto und drückte es Walter in die Hand. »Hier. Ich dachte, das würde dir gefallen. Ist aus Einwinkel.«
Walter entzifferte gehorsam die Balkeninschrift: »Bier trinken macht fröhlich, Gott fürchten macht selig. Drum fürchte Gott und trinke Bier, so wirst du froh und selig allhier« . Das passte bestens zu seinem Gemütszustand. »Und? Wo bleibt mein Bier?«, fragte er übermütig, den gottgefälligen Teil des Spruches großzügig ignorierend.
Laura brachte ihm eine Flasche und ein Glas. Sie setzte sich auf die Gartenbank. »Na, erzähl schon. Du hast doch was rausgefunden. Man kann es dir an der Nasenspitze ablesen.«
Walter ließ sich nicht zweimal bitten und berichtete von seinem Besuch bei Michael Siegel. »Er hat ohne Weiteres zugegeben, dass die Zinken von einem seiner Kumpel angebracht worden sind. Sie
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