Nachtnelken - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners vierter Fall) (German Edition)
um sie zu berühren und ihr einige sehr private Worte zuflüstern zu können. Er wusste, dass würde sie aufmuntern.
Es gelang.
Nun saßen sie sich, wieder dienstlichen Abstand wahrend, an dem großen Tisch gegenüber und Judith erzählte ihm von den Ereignissen des Tages. Beflügelt durch die Aufklärung des Überfalles auf Mirow war die gedrückte Stimmung in der Kreisdienststelle einer konzentrierten Betriebsamkeit gewichen. Die bevorstehende Aufklärung des Mädchenmordes ließ alle den Frust der vergangenen Tage vergessen.
Nach kaum zehn Minuten klopfte Lisa an den Türrahmen. »Dürfen wir?«
»Kommen Sie, bitte«, winkte Judith sie heran. »Haben Sie tatsächlich schon etwas gefunden?«
»Ja, Frau Perch hat ein phänomenales Gedächtnis. Sie erinnerte sich noch genau an das Regalfach, in dem die Akte liegen musste.«
Laura hielt eine ziemlich dicke Akte hoch. »Grüß dich, Judith. Das hier ist eine wirklich üble Geschichte.«
Judith Brunner nahm den Hefter entgegen und begann zu lesen. Nach zwei- bis dreimaligem Umblättern öffnete sie den Heftstreifen und gab die gelesenen Blätter an Walter Dreyer weiter. »Das sollten Sie auch lesen.« Dann blickte sie auf. »Lisa, bitten Sie doch Thomas Ritter und Dr. Grede her. Wir müssen das gemeinsam bereden.«
Zusammen studierten sie die Unterlagen. Eine Viertelstunde blieb es relativ ruhig. Nur vereinzeltes Stöhnen, Laute der Missbilligung oder des Ekels waren zu vernehmen.
Lisa brach das Schweigen. »Dass es solche Menschen gibt! Wer tut Tieren so etwas an?« Ihr Entsetzen war unbeschreiblich.
Ritter schloss sich an: »Unfassbar! Selbst wenn man die Fotos außen vor lässt – hier steht es schwarz auf weiß: Der Täter hat sich nur die Jungtiere ausgesucht, Färsen, also Kühe, die noch kein Kalb geboren hatten. Er hat ihnen die Sehnen an den Hinterläufen durchgeschnitten und am übrigen Körper weitere tiefe Schnittwunden hinzugefügt. In den Scheiden mehrerer Tiere fanden sich Holzstiele von Gartengeräten oder Holzlatten. Und ... mein Gott ... Schlauchstücke.«
»Was! Zeig her!« Grede las nach. »Keine genaue Beschreibung. Schade!«
»Können wir die nicht noch irgendwo herbekommen?«, überlegte Judith Brunner. »Der Fall liegt zwar schon länger als zehn Jahre zurück ...« Sie dachte nach. »Lisa, fragen Sie doch bitte mal beim Amtstierarzt nach. Vielleicht steht noch was Genaueres in dessen Akten. Der war seinerzeit an den Ermittlungen beteiligt.«
Ritter grübelte. »Wieso kann ich mich nicht an diese Sauerei erinnern? Ich war doch damals auch schon hier. Und du auch, Walter.«
Der sah noch einmal genau in den Unterlagen nach. Die ersten Tiere waren 1977 gefunden worden und die Akte schloss zwei Jahre später. Ohne irgendwelche konkreten Hinweise. »Die Ermittlungen lagen bei einem Oberleutnant Rudi Lehnert, wenn ich das richtig sehe. Er ist vom Bezirk extra für diesen Fall delegiert worden.«
Judith Brunner horchte auf. »Wohl eher strafversetzt. Ich erinnere mich noch an ihn. Er hatte ein riesiges Alkoholproblem und wurde dann vorzeitig in Rente geschickt.«
Walter Dreyer setzte fort: »Na, jedenfalls hat er sorgfältig alle Anzeigen und Berichte abgeheftet, aber praktisch hat er nicht viel unternommen. Hier, ein Durchschlag zeigt es: Er hat den Leuten bedauernde Briefe geschrieben, dass die Ermittlungen eingestellt werden würden, da es keine verwertbaren Hinweise auf einen Täter gäbe. Du musst also gar nichts davon mitbekommen haben, Thomas. Und Waldau war nicht direkt betroffen. Ich hatte zwar was davon gehört, ging aber davon aus, dass die Kreisdienststelle schon ordentlich ermitteln würde ... Das Ganze verlief irgendwie im Sande.« Bedauernd hob er die Schultern.
Lisa presste aufgebracht hervor: »Das ändert sich wohl nie! Tierquälerei wird quasi als Kavaliersdelikt betrachtet! Das kümmert keinen! Gibt doch sowieso keine Strafe. Warum sollte man da überhaupt ermitteln? Scheißkerle! So was macht mich rasend!« Sie stieß vor Erregung ihre Kaffeetasse um, die zum Glück leer getrunken war. Ihre Hände zitterten, als sie die Tasse wieder aufstellte.
»Das ist wirklich skandalös«, stimmte Judith Brunner ihrer Mitarbeiterin zu, deren Gesicht von einer tiefen Zornesröte überzogen war. Lisa hatte zwar nicht ganz recht, was die Straffreiheit für Tierquälerei betraf – immerhin konnte das Delikt mit einem öffentlichen Tadel, einer Geldstrafe oder einer Bewährungsstrafe geahndet werden –, doch angesichts dieses
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