Nachtpfade
Haflinger im Pferdehänger? Antwort: Essen auf Rädern.«
Für Gerhard waren das alles Bücher mit sieben Siegeln. Pferd war Pferd. Pferde waren
große Tiere ohne Bremse, deren Lenkung äußerst schwierig war, die wie plüschige
Rasenmäher unentwegt vorne was reinstopften, was hinten dann wieder stinkend
und mistig rauskam. Pferdefrauen waren eine weltweite Seuche, und Jo war
unrettbar verseucht.
Und nun stand er also da in Höhe des neuen Kreisels in
Peißenberg und starrte auf die Wagen. Fünfundfünfzig sollten es sein, rund
zweihundertfünfzig Pferde, und an schönen Sonntagen kamen bis zu zehntausend
Zuschauer. Heute war es vielleicht die Hälfte, und für Gerhards Empfinden waren
das immer noch rund fünftausend Menschen zu viel an so einem Tag. Als gar nicht
beruhigend empfand er, dass die Pferde meist umsichtiger und intelligenter als
die Kutscher wirkten – und die Tiere wohl auch weit weniger Alkohol im Blut
hatten als der Lenker da oben. Was, wenn so ein Gespann außer Kontrolle geriet?
Er hatte mal gehört, dass echtes passioniertes Fahren eine Kunst war und eben
nicht darin bestand, dass man Pferde vor eine Kutsche spannte und weiter oben
und ganz schön viel weiter hinten einer an den Seilen hing. Das Pferd denkt,
der Alkohol lenkt, nein – es hätte wirklich bessere Alternativen für einen
Sonntagvormittag gegeben.
Der Regen wurde vom Wind waagrecht gepeitscht, und
Kollegin Evi, die in pinkfarbenen Gummistiefeln höchst albern in die Pfützen
hopste, hätte er am liebsten erwürgt. Plötzlich hüpfte sie noch mehr, und
Kassandra begann wie wild zu winken: Jo kam ins Bild, und Gerhard musste
zugeben, dass ihre Norweger mit dem Irokesenschnitt zumindest witzig aussahen.
Er musste grinsen, angesichts Falcos Bemühungen, die Dekoration des Wagens vor
ihm zu fressen. Die Kutsche hinter Jo schien Probleme zu haben, der Abstand war
relativ groß, der Kutscher hatte sich weit zur Seite hinausgelehnt,
augenscheinlich, um irgendwas zu überprüfen.
In dem Moment bäumte sich in seinem Viererzug ein
Pferd auf, ein zweiter dieser rabenschwarzen Kolosse tat es ihm gleich, die
Kutsche machte einen gewaltigen Ruckler, der Kutscher flog, und die Pferde
schossen nach vorne. Geballte Kraft, knapp vier Tonnen Pferd in Bewegung,
Menschen kreischten, Gerhard war sekundenlang wie paralysiert, dann riss er
Kassandra zur Seite, Evi rettete sich mit einem Sprung. Die Kutsche donnerte
vorbei, eine Posaune schlug neben ihm ein, gefolgt von einer Tuba. Die Erde
bebte, er konnte die angstgeweiteten Augen der Musiker auf dem Wagen sehen. Die
schweren Rösser waren alles andere als langsam und schossen auf den Kreisel zu.
Sie flogen nur so über den Asphalt, Funken sprühten unter den Hufeisen und den Rädern,
und es schien, als wollten sie den alten Grubenhunt hoch oben auf dem Kreisel
einfach niederrennen. In letzter Sekunde drehten sie ab, aber die Kutsche
geriet in Schräglage, die beiden linken Speichenräder schossen wie Katapulte in
die Luft, und dann stürzte der ganze Wagen zur Seite. Die völlig panischen
Pferde rannten weiter, die Deichsel brach, die beiden Frontpferde buckelten in
die nächste Wiese, die beiden hinteren standen nach ein paar Metern mit
bebenden Flanken. Eines stürzte zur Seite.
Es war ein Schlachtfeld: überall Musikinstrumente,
Holzteile und überall Menschen, die noch am Boden lagen oder humpelnd
hochkamen, die Schnittwunden im Gesicht hatten. Gerhard und Evi reagierten
unmittelbar: Sie rannten zu denen, die am schwersten verletzt zu sein schienen.
Gerhard redete beruhigend auf eine Frau ein, die unter der Kutsche eingeklemmt
war, als von irgendwoher Jo und der Kutscher gerannt kamen. Jo gab die
Anweisungen, klar, kühl, wie die Pferde auszuspannen seien. Der Kutscher schien
unter Schock zu stehen. Gerhard hörte Jo in ihr Handy schreien, sie alarmierte
ihren Tierarzt, und ihr »Beweg deinen Arsch hierher« war inmitten all dieses
Chaos wie eine Heilung. Der Sanka war eingetroffen, ein Notarztteam und einige
hilfreiche Hände hoben die Kutsche behutsam an, die dann in ihre normale
Position donnerte. Nicht ganz normal, denn sie hatte links keine Räder mehr.
Das Bein der Frau sah übel aus, der Hubschrauber war gelandet, der Pilot
fluchte, und Gerhard war sich bewusst, dass dieser Flug bei dem Wetter sicher
extrem gefährlich gewesen war. Der Regen hatte zwar aufgehört, aber der Wind
blies unvermindert weiter. Die Wiese war inzwischen ein einziges Morastloch.
Viel später, wie es Gerhard
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