Nachtpfade
schien, sehr viel später,
als alle Verletzten versorgt waren, sah er sich nach Jo um. Sie hockte auf den
Knien mitten in der Wiese, ein Mann hatte sich zu ihr herabgebeugt: Andy, der
nette Pferdetierarzt, den Gerhard auch kannte. Langsam ging er zu den beiden
hinüber. »Servus«, sagte er zu Andy und »Scheiße«, als er das Pferd dort am
Boden sah.
»Ich musste es an Ort und Stelle einschläfern«, sagte
Andy in einem Ton, der Gerhard verriet, dass auch der Job des netten Veterinärs
einer war, der einen immer wieder beutelte und in Grenzbereiche des
Erträglichen trieb. So abgeklärt konnte man gar nicht sein. Der nicht und er
selbst auch nicht. Jo hatte sich aufgerichtet, sie hatte Tränen in den Augen
und war klatschnass. Ihre viel zu große Herren-Lederhose hing wie ein
Fensterleder an ihren Beinen.
»Es tut mir leid, Jo, sehr leid.«
Jo nickte.
»Wo sind denn eigentlich deine Pferde?«
»Die Mädels haben sie zu Ralf gebracht. Sein Vermieter
hat einen Offenstall gleich bei der Post, wir haben die Pferde da
zwischengelagert. Ich hol sie später mit dem Hänger.«
»Gut«, sagte Gerhard, kam sich dumm vor und verspürte
plötzlich ein merkwürdiges Gefühl. Wer war eigentlich Ralf? Jo hatte immer und
überall sofort Freunde und alle Situationen im Griff. Er schluckte eine
Bemerkung hinunter und sagte indessen: »Jo, du bist patschnass, du musst dich
unbedingt aufwärmen.«
»Schau dich mal an, wia a badte Maus.«
Evi war dazugekommen, schenkte dem ebenso hübschen wie
netten Tierarzt einen koketten Blick und sagte dann: »Zum Thema Aufwärmen hätte
ich einen Vorschlag. Toni hat mitgekriegt, dass es einen Unfall gegeben hat, er
hat angeboten, dass wir bei ihm eine Art Basislager aufschlagen. Unsere
Kollegen sind schon da. Wir sind nämlich ab sofort im Dienst.«
»Im Dienst?«
»Der Wagen wurde sabotiert. Die Räder wären auch ohne
den Ausritt über den Kreisel gebrochen. Die Aufhängung war manipuliert, die
Bremse auch. Der Kutscher hatte das gerade bemerkt, weil der Wagen unrund lief,
sich hinuntergebeugt, das haben wir ja auch gesehen. Und den Rest kennst du.«
»Versuchter Totschlag?«
»Das darf der Staatsanwalt entscheiden. Wir haben eine
Schwerverletzte, etwa zehn Leichtverletzte und ein totes Pferd.«
»Was ist eigentlich mit den anderen Pferden?«, fragte
Gerhard.
»Die sind sicher schon wohlbehalten in Schönberg
angelangt, ein paar Nachbarn vom Weinling haben sie heimgebracht. Eines hatte
noch eine üble Fleischwunde, aber die konnte ich nähen. Das heilt alles
wieder«, sagte Andy.
»Weinling?«
»Ja, der Kutscher ist unser Freund Weinling, es waren
seine Rappen«, fiel Evi ein, immer noch den Blick auf den Tierarzt geheftet.
»Und genau dem versagen die Bremsen? Was für ein
Zufall!«, rief Gerhard.
»Tja, Chef, und dieser Weinling sitzt mit zwei unserer
Kollegen bei Toni, und wenn du noch was aus ihm rauskriegen willst, dann spute
dich. Ich glaube nämlich, dass er nicht mehr so viele Ouzos durchsteht.«
»Na dann auf, Jo, du kommst mit, du brauchst einen
Dreifachen. Andy?«
»Danke, ich würde gerne, aber ich muss noch zu ‘ner
Geburt. Machts es gut mitanand«, lächelte er und stiefelte davon.
Evi seufzte, worauf Jo unter Schniefen lachen musste.
»Evi, ausgerechnet ein Tierarzt. Der verbringt die Nächte in Pferdeboxen und
nicht auf Vernissagen, geschweige denn in deinem Lotterbettchen.«
»Ja, und sicher ist er verheiratet, auch noch
glücklich, seine Frau ist hübsch, und zu allem Überfluss hat er noch jede Menge
putziger Kinderlein, oder?«
»Fast. Seine Frau ist hübsch, aber er hat nur eine
Tochter.«
»Danke, Jo, du verstehst es, mich aufzubauen.« Evi
grinste. »Wo ist eigentlich Kassandra?«, fragte sie plötzlich und sah in
Gerhards Richtung.
Ja genau. Wo war Kassandra? Die Frage hätte eigentlich
von ihm kommen müssen.
»Sie ist mit ins Krankenhaus gefahren. Der eine
Notarzt wollte ihr, glaub ich, gleich ‘nen Job anbieten, so begeistert war er
von Kassandras fachmännischer Hilfe. Ich soll euch grüßen«, sagte Jo.
Wieder so ein Stich, Jo wurde informiert. Nicht er.
Schweigend stapften sie an der Post vorbei, die
Ebertstraße entlang. Das Gehen war heilsam, es beruhigte. Die Sonne kam
zögerlich hinter ein paar Wolken hervor. Felix und Melanie saßen mit Manfred
Weinling an einem der hinteren Tische. Die Kollegen vor Schwarztee, der
Weinling vor einer Batterie von Ouzo. Von der sonstigen dummdreisten Arroganz
des jungen Bauern war nichts mehr
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