Nachtprinzessin
dem man überhaupt nicht zutraute, noch jemals einen Laut von sich zu geben, und das Renato schon Jahre nicht mehr benutzt hatte. Jedenfalls konnte sich Paolo nicht daran erinnern.
Und jetzt ratterte das Ungetüm unaufhörlich in einer Lautstärke, dass man sich kaum vernünftig unterhalten konnte, wenn man danebenstand. Offensichtlich war es bisher nur noch niemand unangenehm aufgefallen, weil hinter dem Haus nur die Schotterstraße entlangführte, die außer ein paar Weinbauern niemand benutzte.
Nun war ja alles in Ordnung. Wenn die Klimaanlage tobte, dann musste Renato zu Hause sein. Vielleicht war er spät in der Nacht gekommen.
Paolo fröstelte, zog sich die Jacke fester um den Körper und ging zurück in seine Wohnung. Am späten Vormittag wollte er zu Renato rübergehen, ein bisschen plauschen und ihn bei der Gelegenheit bitten, die Höllenmaschine, wenn sie bei diesen niedrigen Temperaturen überhaupt laufen musste, doch zumindest in der Nacht abzustellen.
Paolo hatte seine Weinberge schon vor einigen Jahren verkauft, und er dachte nicht daran, bei anderen Weinbauern als Tagelöhner zu arbeiten und bei der Lese zu helfen. Das kam überhaupt nicht infrage. Also saß er nach dem Frühstück, während seine Frau zum Markt nach Ambra ging, am Fenster und wartete darauf, dass Renato vielleicht Fenster und Türen öffnen oder zumindest auftauchen würde.
Aber nichts geschah.
Die Klimaanlage ratterte weiter, und hinter den Fenstern regte sich nichts.
Um elf ging Paolo hinüber und klingelte, aber niemand öffnete.
Um zwölf Uhr aß er mit Livia zu Mittag, legte sich danach eine Stunde hin, schließlich hatte er in der Nacht so gut wie gar nicht geschlafen, und klingelte um drei Uhr nachmittags erneut.
Nichts.
Von nun an probierte er es jede Stunde und ließ die Piazza und Renatos Haustür nicht mehr aus den Augen.
Renato tauchte nicht auf.
Um neunzehn Uhr, als die Osteria öffnete, ging er zu Pepe. Vielleicht wusste der etwas.
Pepe spendierte ein Glas Chianti und setzte sich zu Paolo, da noch keine Gäste da waren und er in der Küche nichts mehr vorzubereiten hatte.
»Was ist da in Renatos Wohnung los?«, fragte Paolo. »Da rattert seit vierundzwanzig Stunden die Klimaanlage, dass man verrückt werden könnte, und niemand ist da.«
»Meines Wissens hat Renato verkauft«, sagte Pepe. »Jedenfalls war einmal ein Interessent mit einem Makler hier, und die beiden haben bei mir gegessen. Es war ein Deutscher, und er war sehr interessiert. Er wollte auch kaufen. So viel hab ich mitbekommen. Aber ob er dann auch wirklich unterschrieben hat, weiß ich nicht. Ich hab Renato schon ewig nicht mehr gesprochen.«
Paolo überlegte einen Moment. Dann fragte er vorsichtig: »Du hast doch einen Schlüssel zu der Wohnung, oder?«
Pepe nickte.
»Dann lass uns mal reingehen und sehen, ob alles in Ordnung ist. Da wäre Renato sicher nicht böse. Schließlich hast du den Schlüssel für genau solche Fälle. Und noch eine Nacht halte ich es mit diesem Krach nicht aus.«
»Va bene.« Pepe strich sich die tadellos saubere und exakt gebügelte Schürze glatt. »Wenn du meinst, dass da etwas nicht stimmt, dann gehen wir rüber.«
Pepe beeilte sich, den Schlüssel zu holen. Er wusste zwar, dass in der Osteria auch alles funktionierte, wenn er mal eine halbe Stunde nicht da war, da sein Sohn und seine Frau alles perfekt im Griff hatten, aber er wollte doch gern die Gäste per Handschlag begrüßen, wenn sie sein Restaurant betraten.
Als Pepe und Paolo die Wohnung betraten, schlug ihnen eisige Kälte entgegen. Sie hatten das Gefühl, in einen Kühlraum zu kommen, sogar der Nebelhauch beim Ausatmen war sichtbar.
Pepe und Paolo sahen sich an, als wollten sie sagen: Was soll denn der Blödsinn?
Paolo schätzte die Temperatur in der Wohnung auf maximal acht Grad, und er konnte sich nicht erklären, was das Ganze sollte.
»Hallo! Ist da jemand? Renato! Permesso!« Niemand antwortete auf Pepes Rufen. Die ganze Situation war ihm äußerst unangenehm, und er ging, gefolgt von Paolo, langsam und vorsichtig weiter.
Auch durch das Wohnzimmer wehte ein eisiger Hauch, aber dennoch waren beide Männer davon angetan, was der offensichtlich neue Besitzer mit wenigen Kleinigkeiten und Accessoires aus Küche und Wohnzimmer gemacht hatte.
Paolo öffnete die Schlafzimmertür.
Was er sah, konnte er im ersten Moment gar nicht glauben. Auf dem Bett lag nackt, an Händen und Füßen gefesselt, geknebelt und blau gefroren, Gianni, der Sohn
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