Nachtprogramm
Tante Monie käme nun regelmäßig, doch blieb dies ihr einziger Besuch. Ein paar Mal im Jahr, meistens an Sonntagnachmittagen, rief sie an und wollte meine Mutter sprechen. Die beiden redeten ungef ähr eine Viertelstunde, aber es schien sich nie um ein fröhliches Gespräch zu handeln, wie wenn sie mit meiner eigentlichen Tante telefonierte. Anstatt zu lachen und mit der freien Hand eine Locke ins Haar zu drehen, drückte meine Mutter nur ein Stück des Telefonkabels zusammen und hielt es in der Faust wie einen Stapel Münzen. »Tante Mildred«, sagte sie. »Wie schön, dass du anrufst.« Wollte man mithören, schob sie einen mit dem bloßen Fuß fort. »Nichts. Ich sitze bloß hier und beobachte das Vogelhäuschen. Du magst Vögel, oder?... Nein? Ach, ehrlich gesagt, ich auch nicht. Lou findet sie interessant, aber... genau. Reich ihnen den kleinen Finger, und sie nehmen die ganze Hand.«
Es war, als würde man sie nackt sehen.
Als ich mit einer Jugendgruppe nach Griechenland reiste, bezahlte Tante Monie den Flug. Da nicht davon auszugehen ist, dass sie am Telefon fragte, wie sie mir eine Freude machen k önne, nehme ich an, meine Mutter brachte das Gespräch darauf, wie man das tut, wenn man hofft, der andere werde seine Hilfe anbieten. »Lisa darf mit, aber David muss bei den hohen Kosten noch ein paar Jahre warten. Du willst was? Oh, Tante Mildred, das kann ich nicht annehmen.«
Zuletzt konnte sie doch.
Wir erfuhren, dass Tante Monie jeden Abend Lammkoteletts aß. Jedes Jahr kaufte sie sich einen neuen Cadillac. »Das muss man sich mal vorstellen«, sagte mein Vater. »Fährt vielleicht zehntausend Meilen mit dem Schlitten, und dann zieht sie los und kauft sich einen neuen. Versucht vermutlich nicht einmal den Preis zu drücken.« Für ihn war es schierer Wahnsinn, doch für den Rest von uns war es der Inbegriff von Klasse. Genau darin bestand der Luxus von Geld: sich Dinge anschaffen zu können, ohne um Rabatte oder Monatsraten bei möglichst niedrigen Zinsen feilschen zu müssen. Mein Vater gab unseren alten Kombi in Zahlung und bearbeitete dann monatelang die Verkäufer, bis sie alles taten, um ihn loszuwerden. Er verlangte und bekam tatsächlich auch eine verlängerte Garantie auf unseren Kühlschrank, offenbar mit dem Hintergedanken, dass, sollte das Gerät im Jahr 2020 lecken, er sich aus seinem Grab erheben und es eintauschen konnte. Für ihn bedeutete Geld einzelne Dollars, die sich langsam wie Tropfen aus einem undichten Wasserhahn ansammelten. Für Tante Monie war Geld eher wie ein Ozean. Man gab es in hohem Bogen aus, und ehe noch die Rechnung geschrieben worden war, krachte auch schon die nächs te Woge an den Strand. Das war das Schöne an Dividenden.
Im Gegenzug f ür mein Ferienlager in Griechenland wollte meine Mutter,
dass ich ihrer Tante einen Dankesbrief schrieb. Es war nicht zu viel verlangt, aber sosehr ich mich auch anstrengte, ich kam einfach nicht über den ersten Satz hinaus. Ich wollte Tante Monie davon überzeugen, dass ich bes ser als der Rest meiner Familie war, dass ich den Kauf eines Cadillacs zum Listenpreis und eine Vorliebe für Lammkoteletts verstand, aber wo anfangen? Ich dachte an meine Mutter und ihr unbeholfenes Gerede über Vögel Am Telefon konnte man immer noch einen Rückzieher machen und sich der Meinung des Gesprächspartners anschließen, aber in einem Brief, wo jedes Wort in Stein gemeißelt war, ging das nicht so leicht.
» Liebe Tante Mildrcd .« »Meine liebste Tante Mildred.« Ich schrieb, dass Griechenland großartig wäre, strich es wieder durch und erklärte, Griechen land sei ganz okay. Das, überlegte ich, könnte als Undankbarkeit ausgelegt werden, und ich fing noch mal von vorn an. »Griechenland ist alt«, schien mir passend, bis mir auffiel, dass sie mit ihren sechsundfünfzig Jahren nicht viel jünger war als der Tempel von Delphi. »Griechenland ist arm«, schrieb ich. »Griechenland ist heiß.« »Griechenland ist interessant, vermutlich aber weniger interessant als die Schweiz.« Nach zehn Anläufen gab ich auf. Bei meiner Rückkehr nach Raleigh nahm meine Mutter eins meiner Mitbringsel, einen nackten Diskuswerfer aus Salzteig, und schickte ihn mit einem Gruß von mir, den ich unter Zwang am Küchentisch zu schreiben hatte, mit der Post an meine Tante. »Liebe Tante Mildred. Vielen Dank!« Zugegeben, nicht unbedingt das Werk eines schlummernden Genies, aber ich nahm mir vor, in der kommenden Woche einen richtigen Brief zu schreiben. In der
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