Nachtprogramm
konnten, ich selbst. Genauer gesagt, ich konnte mich nicht ausstehen. Thad machte sich nicht einmal diese Mühe. Am Tag nach unserem Treffen ging ich in die Caféteria zu dem Tisch, an dem er und seine Clique immer saßen. »Hör zu«, sagte ich, »tut mir wirklich Leid wegen der Sache mit meinem Vater« Ich hatte eine längere Rede vorbereitet, einschließlich einiger Imitationen meines Vaters, aber nachdem ich meinen ersten Satz beendet hatte, wandte er sich wieder seiner Unterhaltung mit Doug Middleton zu. Unsere beiderseitige Falschaussage, der Auftritt meines Vaters, sogar der Steinwurf. Ich befand mich so weit unter ihm, dass er sich nicht einmal mehr daran erinnerte.
Puff.
In der Mittelstufe leuchteten die Stars am E. C. Brooks noch heller, doch in der zehnten Klasse begannen sich die Dinge zu ändern. Die Aufhebung der Rassentrennung trieb eine ganze Reihe der angesehenen Schüler an Pri vatschulen, und die, die blieben, kamen einem stumpf und von gestern vor, wie der abgesetzte Adel eines Landes, dessen einfache Bürger sich nicht länger für ihn interessierten. Gleich zu Anfang der siebten Klasse wurde Thad von einer Gruppe der neuen schwarzen Schüler überfallen. Sie zogen ihm seine Schuhe aus und warfen sie ins Klo. Ich wusste, ich hätte mich freuen sollen, aber irgendwie fühlte ich mich persönlich angegriffen. Zwei fellos war er ein gleichgültiger Herrscher gewesen, aber ich glaubte immer noch an die Monarchie. Als sein Name auf der Schulabschlussfeier aufgerufen wurde, applaudierte ich am längsten, länger noch als seine Eltern, die aus Anstand aufhörten, nachdem er das Podium verlassen hatte.
Ich dachte in den kommenden Jahren viel an Thad und fragte mich, an welches College er wohl ging und ob er einer Studentenverbindung beigetreten war. Die Zeit der überragenden Gestalten auf dem Campus war vor über, doch die verräucherten Kneipen mit ihren Billardtischen und den fal schen Bräuten waren weiterhin die Anlaufstelle der einstigen Anführer, in denen man jetzt potenzielle Vergewaltiger von Prostituierten und zukünftige Alkoholiker sah. Ich rede mir ein, dass Thad, während seine Freunde einer Ungewissen und bitteren Zukunft entgegentrieben, in einer Vorlesung landete, die sein Leben veränderte. Heute ist er Hofdichter von Liechtenstein, der Chirurg, der Krebs mit Liebe heilt, der Lehrer von Neuntklässlern, der darauf beharrt, dass auf dieser Welt genügend Platz für alle ist. Wenn ich in eine andere Stadt ziehe, hoffe ich jedes Mal, er könnte in der Nachbarwohnung wohnen. Wir begegnen uns im Flur, und er streckt die Hand aus und sagt: »Entschuldigung, aber kenne ich – müsste ich Sie nicht kennen?« Es muss nicht heute passieren, aber irgendwann. Ich habe eine halbe Ewigkeit damit verbracht, auf ihn zu warten, und wenn er nicht kommt, muss ich meinem Vater verzeihen.
Der Zahn mit der Wurzelbehandlung, der ein Jahrzehnt halten sollte, h ält mittlerweile seit über dreißig Jahren, auch wenn das kein Grund ist, stolz zu sein. Nachdem er immer weiter abgestorben und gefühllos geworden ist, hat er inzwischen eine graubraune Färbung, die im Conran-Katalog als »Kabuki« bezeichnet wird. Er hält zwar noch, aber auch nur so gerade eben. Im Gegensatz zu Dr. Povlitch, der seine Patienten in einem umgebauten Ziegelbau neben dem Colony Shopping Center behandelte, hat mein gegenwärtiger Zahnarzt, Docteur Guige, eine Praxis unweit der Madeleine in Paris. Die Sprechstundenhilfe ruft meinen Namen auf, und oft dauert es eine Weile, bis ich begreife, dass ich gemeint bin.
Bei einem der letzten Besuche packte Docteur Guige meinen toten Zahn mit den Fingerspitzen und schob ihn leicht hin und her. Da ich seine Ge duld nicht unn ötig strapazieren mochte, brauchte ich eine Weile, bis ich auf seine Frage, wie es passiert sei, eine möglichst klare Antwort gefunden hat te. Die Vergangenheit war viel zu kompliziert für mein Französisch, also stellte ich mir eine perfekte Zukunft vor und erklärte die Wurzelbehandlung mit einem kleinen Missverständnis unter Freunden.
Monie macht ’s möglich
Meine Mutter hatte eine Gro ßtante, die außerhalb von Cleveland wohnte und uns einmal in Binghamton, New York besuchte. Ich war damals sechs Jahre alt, aber ich erinnere mich noch genau, wie ihr Wagen in unsere frisch gepflasterte Auffahrt einbog. Es war ein silberner Cadillac, an dessen Steuer ein Mann mit einer flachen Kappe saß, in der Art einer Polizeimütze. Er öffnete mit weit ausladender Geste
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