Nachtprogramm
die hintere Tür, als handle es sich um eine Kutsche, und wir sahen die Schuhe der Großtante, die orthopä disch, aber doch elegant waren, aus feinstem Leder gearbeitet und mit spit zen Absätzen in der Größe von Garnspulen. Den Schuhen folgte der Saum eines Nerzmantels, die Spitze eines Gehstocks und zuletzt die Großtante selbst, die groß war, weil sie reich war und keine Kinder hatte.
»Ach, Tante Mildred«, sagte meine Mutter, und wir starrten sie verdutzt an. Sonst hieß sie immer nur »Tante Monie«, ein Mittelding aus mosern und money, und ihr tatsächlicher Name war neu für uns.
»Sharon!«, sagte Tante Monie. Sie sah unseren Vater und dann uns an.
»Das ist mein Mann, Lou«, sagte meine Mutter. »Und das sind unsere Kinder.«
»Wie reizend. Eure Kinder.«
Der Fahrer übergab meinem Vater mehrere Einkaufstaschen und ging zurück zum Wagen, während wir ins Haus traten.
»Möchte er vielleicht das Bad benutzen?«, fragte meine Mutter. »Ich meine, er kann selbstverständlich...«
Tante Monie lachte, als hätte meine Mutter gefragt, ob der ganze Wagen ins Haus kommen wolle. »Oh, nein, Liebste. Der bleibt draußen.«
Ich glaube nicht, dass mein Vater sie durchs Haus führte, wie er es bei den meisten Besuchern tat. Er hatte einige Dinge am Haus selbst gemacht und hob gerne hervor, wie es ohne seine Initiative ausgesehen hätte. »Hier zum Beispiel«, sagte er, »habe ich die Feuerstelle für den Grill gleich in die Küche verlegt, weil man da näher am Kühlschrank ist.« Die Gäste gratulierten ihm zu seinem Einfallsreichtum, und es ging weiter mit der Frühstückslaube. Ich kannte nicht viele Häuser, aber mir war klar, dass unseres sehr hübsch war.
Vom Wohnzimmerfenster aus blickte man auf den Garten hinterm Haus, und dahinter lag ein tiefer Wald. Im Winter kamen Rehe und beschnupper ten das Vogelhäuschen, ohne sich um die Fleischstreifen zu kümmern, die meine Schwestern und ich als Leckerbissen für sie ausgelegt hatten. Selbst wenn kein Schnee lag, war der Ausblick beeindruckend, aber Tante Monie schien sich nicht dafür zu interessieren. Ihr einziger Kommentar betraf unser goldenes Wohnzimmersofa, das sie offenbar sehr amüsierte. »Du lieber Himmel«, sagte sie zu meiner vierjährigen Schwester Gretchen. »Habt ihr das selbst ausgesucht?« Sie lächelte kurz und unbeholfen, als arbeite sie daran und brauche noch etwas Übung. Die Mundwinkel gingen nach oben, aber ihre Augen kamen nicht mit.
Anstatt zu gl änzen, blieben sie stumpf und ausdruckslos wie alte Münzen.
»Na schön«, sagte sie. »Wollen wir mal sehen, was wir da haben«. Der Reihe nach ließ sie meine Schwestern und mich vortreten und drückte uns unverpackte Geschenke aus einer bunten Einkaufstasche in die Hand, die vor ihr auf dem Boden stand. Die Tasche stammte von einem Kaufhaus in Cleveland, das ihr viele Jahre lang gehört hatte, zumindest ein Teil davon. Es war im Besitz ihres ersten Mannes gewesen, nach dessen Tod sie einen Werkzeug- und Stempelfabrikanten geheiratet hatte, der seinen Betrieb später an Black & Decker verkaufte. Auch er war gestorben, und sie hatte alles geerbt.
Ich bekam von ihr eine Marionette. Kein billiges Massenprodukt mit ei nem schiefen Plastikgesicht, sondern eine aus Holz, bei der jedes einzelne Gelenk durch feine Häkchen mit einer schwarzen Kordel verbunden war. »Das ist Pinocchio«, sagte Tante Monie. »Seine lange Nase hat er vom vielen Lügen. Und du, flunkerst du auch hin und wieder ganz gerne?« Ich wollte antworten, doch sie hatte sich schon meiner Schwester Lisa zugewandt. »Und wen haben wir hier?« Es war wie ein Besuch beim Weih nachtsmann, oder eher, als sei der Weihnachtsmann zu Besuch. Sie gab je dem von uns ein teures Geschenk, und dann ging sie ins Badezimmer, um sich die Nase zu pudern. Bei den meisten Leuten war das nur eine Redensart, aber als sie herauskam, war ihr Gesicht wie mit Mehl bestäubt, und sie roch intensiv nach Blumen. Meine Mutter bat sie, zum Mittagessen zu bleiben, doch Tante Monie sagte, das ginge nicht. »Es ist wegen Hank«, erklär te sie. »Die lange Fahrt, unmöglich.« Hank war offenbar der Fahrer, der im gleichen Moment losspurtete und die Wagentür öffnete, als wir aus dem Haus kamen. Unsere Großtante ließ sich auf den Rücksitz sinken und legte eine Felldecke über ihren Schoß. »Sie können die Tür jetzt schließen«, sagte sie, und wir standen in der Auffahrt, und meine Marionette winkte ihr zum Abschied steif hinterher.
Ich hoffte,
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