Nachtprogramm
aber der Verstand, der eine Zuckerpille für ein Aspirin hielt, war nicht die Sorte Verstand, der man bei einem Serienwagenrennen in North Carolina begegnete. Unsere ersten Vorräte waren wir ruck zuck los, aber als wir mit Nachschub anrückten, hatten die Leute Wind von der Sache bekommen. »Von wegen Bier«, brüllten sie. »Das ist Betrug.«
»Die Wirkung setzt ein, sobald es heiß wird«, sagte Jerry, aber niemand glaubte ihm.
Zwischen dem ersten und dem zweiten Rennen lag eine Stunde Pause, in der ich mit Dan über den Jahrmarkt schlenderte und an eine Wildlederweste dachte, die ich in der Woche zuvor bei J.C. Penny gesehen hatte. Die Verkäuferin hatte die Farbe als »maskulines Kirschrot« bezeichnet, und von der Schulter fielen Lederfransen herab wie bei einer Ponyfrisur. Achtzehn Dollar waren viel Geld, aber mit so einer Weste blieb man nicht un bemerkt. In Kombination mit einem Rollkragenpulli oder einem passenden Buttondownshirt konnte man aller Welt zu verstehen geben, dass man sen sibel und ein Kämpfer für den Frieden war. Die Weste über der nackten Brust getragen hieß, lange Haare hin oder her, dass man ein Leben in verwegenen Regionen führte, die sich am besten mit »da draußen« beschreiben ließen. Ich hatte gehofft, das Geld zusammenzubekommen, wenn ich das ganze Wochenende über arbeitete, aber mit dem Lightbier konnte man die Sache so gut wie vergessen. Ich würde sie auf meinen Wunschzettel zu Weihnachten setzen müssen, was den Reiz ganz entschieden dämpfte. In Geschenkpapier eingewickelt und mit der Aufschrift »Vom Weihnachtsmann« wäre sie nicht länger hip und gefährlich, sondern eher das genaue Gegenteil.
Die Zuschauertrib üne füllte sich für das zweite Rennen, und wir machten uns wieder auf den Weg zum Speedway, als ich zwei spießig gekleidete Jungen sah, die das Riesenrad bestaunten. Sie sahen so aus wie ich, waren allerdings ein bisschen jünger, Brüder vielleicht, und sie trugen beide die gleiche Brille mit schwarzem Gestell, das von einem Gummiband festgehalten wurde. Ich sah, wie sie mit offenen Mündern in die Luft starrten, und im gleichen Moment sah ich meine rote Wildlederweste.
»Etwas Kleingeld übrig?«
Die Brüder sahen sich und dann wieder mich an. »Okay, einen Moment«, sagte der Ältere. »Gene, gib ihm etwas Kleingeld.«
»Warum ich?«, fragte Gene.
»Weil ich es sage, deshalb.« Der ältere Bruder zog seine Brille ab und rieb sich mit dem Finger über die wunde Stelle auf der Nasenwurzel. »Du bist ein Hippie, richtig?« Er sagte es so, als wandelten Hippies, genau wie Kanadier und Methodisten, still und leise unter uns, unerkennbar für das bloße Auge.
»Natürlich ist der ein Hippie«, sagte Gene. »Sonst würde er ja nicht andere Leute belästigen.« Er kramte in seinem Kleingeld herum und gab mir ein Zehncentstück.
»Tausend Dank«, sagte ich.
Es war die einfachste Sache der Welt. Dan arbeitete auf der einen Seite des Riesenrads, ich auf der anderen. Wir fragten die Leute nach Geld, wie man nach der Uhrzeit fragte, und wenn jemand was gab, bedankten wir uns mit dem Peacezeichen oder einem verstohlenen Nicken, das bedeutete: »Ich bin froh, dass du weißt, wo ich herkomme.« Erwachsene waren meist zugeknöpft und misstrauisch, sodass wir uns an Leute in unserem Alter hielten und uns vor allem auf die unverkennbar von auswärts kommenden Besucher konzentrierten, die von Hippies gehört, aber noch nie einen zu Gesicht bekommen hatten. Die Leute gaben was, oder sie gaben nichts, aber niemand fragte, wofür wir das Geld brauchten oder warum zwei offenbar gut versorgte Teenager wildfremde Menschen um Geld baten.
Das war Freiheit, und um das Gef ühl noch zu vergrößern, arbeiteten wir uns zurück zum Speedway, wo Jerry sich inzwischen auf das dritte Rennen vorbereitete. »Euch sollte man kräftig in den Arsch treten«, sagte er. »Einfach so zu verschwinden, behandelt man so einen Freund?« Er drückte uns unsere Arbeitskleidung in die Hand, die wir gleich wieder auf die Theke warfen und verkündeten, wir hätten einen einfacheren Weg gefunden, an Geld zu kommen.
»Dann zieht Leine«, sagte er. »Und kommt mir bloß nicht wieder angekrochen. Falsche Fuffziger kann ich nicht gebrauchen.«
Der Ausdruck bescherte uns noch viel Freude. Einmal mehr daran erin nert, wie bescheuert man mit einem Pappdeckel auf dem Kopf aussah, gin gen Dan und ich wieder auf Betteltour. Zwischendurch klopften wir uns abwechselnd auf die Schultern und sagten: »Na,
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