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Nachtprogramm

Nachtprogramm

Titel: Nachtprogramm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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wir Glück hatten, trugen mein Freund Dan und ich weiße Jacken und kleine Papierhüte auf dem Kopf und arbeiteten hinter der Getränketheke. Wenn wir Pech hatten, was viel häufiger vorkam, latschten wir in dem gleichen blödsinnigen Aufzug sowie einem schweren Bauchladen um den Hals die Sitzreihen rauf und runter und verkauften Popcorn, Erdnüsse und verwässerte Cola, die wir als »eisgekühlte Getränke« anzupreisen hatten.
    Im wirklichen Leben sagte kein Mensch Sachen wie »eisgekühlte Ge tränke«, aber unser Boss, Jerry, bestand darauf. Schlimmer noch, als es einfach zu sagen, mussten wir es laut durch die Gegend brüllen, wobei ich mir vorkam wie ein Straßenverkäufer oder ein Zeitungsjunge aus den Zwanzigern. Bei Heavy-Metal-Konzerten fielen wir nicht weiter auf, aber bei Countrymusicshows – so genannten Jamborees – beschwerten sich die Leu te schon mal, wenn wir mitten in ihre Lieblingssongs hineinbrüllten: »Stand by your POPCORN, ERDNÜSSE, EISGEKÜHLTE GETRÄNKE«, »My woman, my woman, my POPCORN, ERDNÜSSE, EISGEKÜHLTE GETRÄNKE!!«, »Folsom prison POPCORN, ERDNÜSSE, EISGEKÜHLTE GETRÄNKE«. Die aufgebrachteren Fans liefen nach unten und beschwerten sich bei Jerry, der lediglich sagte: »Schicksal. Ich muss Geld verdienen.« Er beschimpfte die Beschwerdeführer als »einen Haufen knausriger Hinterwäldler«, was mich überraschte, da er selbst so etwas wie ein Hinterwäldler war. Allein der Ausdruck »knausrig« war ein deutliches Indiz dafür, genau wie sein Bürstenhaarschnitt und sein Fläschchen mit Asthmaspray, auf das er eine kleine amerikanische Flagge geklebt hatte.
    »Vielleicht ist Hinterwäldler für ihn ein Kompliment«, sagte meine Mutter, aber das nahm ich ihr nicht ab. Viel wahrscheinlicher war, dass er einen gewaltigen Unterschied sah zwischen sich und den Leuten, die genau wie er aussahen und wie er handelten. Bei mir war es nicht anders, und wenn ich Jerry zuhörte, wurde mir bewusst, wie hohl mein eigenes Gerede klang. Wie kam ich, mit meiner Zahnspange und dem schwarzen Brillengestell mit den dicken Gläsern, dazu, andere als uncool zu bezeichnen? »Oh, du siehst prima aus«, sagte meine Mutter. Sie wollte mein Selbstvertrauen stärken, aber für die Mutter gut auszusehen hieß, dass ganz bestimmt etwas faul war. Ich wollte, dass sich ihr bei meinem Anblick der Magen umdrehte, aber im Augenblick waren mir die Hände gebunden. Nach den geltenden Familienregeln durfte ich mir erst mit sechzehn die Haare lang wachsen lassen, das gleiche Alter, in dem meine Schwestern sich die Ohrläppchen durchstechen lassen durften. Meinen Eltern schien das einleuchtend, aber Ohrläppchen durchzustechen ist eine Sache von Minuten, während man für einen anständigen Pferdeschwanz Jahre braucht. Wie es aussah, würde ich allein Monate brauchen, bis ich Dan eingeholt hatte, dessen Mut ter vernünftig war und sich nicht mit irgendwelchen sinnlosen Altersbeschränkungen in sein Aussehen einmischte. Er hatte dichtes, in der Mitte gescheiteltes glattes Haar, dessen honiggelb gefärbte Strähnen von den Oh ren gehalten wurden und wie zwei schwere Vorhänge bis auf die Schultern fielen.
    Seit der vierten Klasse waren wir immer die Außenseiter gewesen – die Wald-und-Wiesen-Heinis, die Spastiker –, aber mit seiner neuen Frisur zog Dan davon, hing mit coolen Leuten von seiner Privatschule herum und hör te bei ihnen zu Hause Schallplatten. Wenn ich jetzt jemanden eine Lusche nannte, sah er mich mit dem gleichen Blick an, mit dem ich Jerry angesehen hatte – armer Irrer –, und ich begriff, dass unsere Freundschaft zu Ende ging. Jungen durften sich von solchen Dingen nicht unterkriegen lassen, deshalb verkroch ich mich in eine stille Eifersucht, die immer schwerer zu verheimlichen war.
    Die große Kirmes kam in diesem Jahr Mitte September zu uns, und die Getränkemannschaften pendelten zwischen Konzerten in der Arena und kleineren Veranstaltungen auf dem Speedway hin und her. Dan und ich machten uns für das erste Serienwagenrennen fertig, als Jerry verkündete, anstatt Cola würden wir Lightbier in Dosen verkaufen.
    Lightbier unterschied sich von richtigem Bier durch den Alkoholgehalt. Bier hatte welchen, Lightbier so gut wie keinen. Es schmeckte nach Haferflocken mit Kohlensäure, aber Jerry hoffte, die Käufer würden sich von dem Etikett täuschen lassen, das nach Alkohol und harten Männern aussah. »Der Verstand kann einem einen Bären aufbinden«, sagte er.
    Vielleicht hatte er Recht,

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