Nachtprogramm
dieses Mädchen war durch und durch authentisch.
Es gab seitenweise Dias mit geh ässigen Botschaften. Auch die Fotos wa ren ruiniert. Auf einem war ich als Kleinkind zu sehen, das Wort »Drecksack« auf die Stirn geritzt. Ein anderes zeigte meine frisch verheiratete Mutter beim Krabben fischen und mit ausgestochenen Augen. Auf dem Stapel auf dem Boden fanden sich auch die vielen kleinen Geschenke, die sie mit vorgespielter Dankbarkeit angenommen hatte, die Umschläge und Postkar ten und sogar das Päckchen mit Papiertüchern, alles systematisch zerstört.
Ich packte alles zusammen und lief damit direkt zu Brandis Mutter. Es war zwei Uhr nachmittags, und sie trug eine dieser hüftlangen Jacken, die Judokämpfer anhaben. Für sie war es Vormittag, und sie trank Cola aus einem großen Becherglas.
»Scheiße«, sagte sie. »Hatten wir das nicht schon?«
»Leider nein.« Meine Stimme war höher und zittriger als sonst. »Wir hatten das noch nicht.«
Ich hatte mich immer als Außenseiter in der Nachbarschaft gesehen, als eine Art Missionar unter Wilden, aber mich schnaubend und mit spinnwebenverklebten Haaren vor einer fremden Tür zu sehen, ließ in mir den schrecklichen Verdacht aufkommen, ich könnte genau hierher gehören.
Brandis Mutter schielte auf den schmierigen Packen in meiner Hand und verzog die Stirn, als wollte ich ihr irgendwelchen Kram an der Tür verkaufen. »Wissen Sie, was?«, sagte sie. »Im Moment kann ich nichts gebrau chen. Ach was, ich kann’s überhaupt nicht gebrauchen. Basta. Glauben Sie, ein Kind zu haben ist leicht für mich? Ich habe niemanden, der mir hilft, keinen Ehemann und keine Tagesmutter oder sonst wen, ich bin ganz allein, verstehen Sie?«
Ich versuchte das Gespräch auf das eigentliche Thema zurückzulenken, aber für Brandis Mutter gab es nur ein Thema: Alles drehte sich um sie. »Ich arbeite meine Stunden und schiebe auch noch Schichten für die sau blöde Kathy Cornelius, und an meinem einzigen freien Tag soll ich mir von einer Schwuchtel irgendwelchen Scheiß anhören, von dem ich nicht einmal weiß? Sicher nicht. Heute jedenfalls nicht, also suchen Sie sich jemand an deren, bei dem Sie Ihren Müll abladen können.«
Sie knallte mir die T ür vor der Nase zu, und ich stand im Flur und dachte nur: Wer ist Kathy Cornelius? Was ist da gerade passiert?
In den kommenden Tagen spielte ich unsere Unterhaltung wieder und wieder im Kopf durch und dachte mir immer neue bissige und kluge Antworten aus, wie etwa: »Augenblick mal, ich habe mir kein Kind angeschafft.« Oder: »Ist es vielleicht mein Problem, dass Sie die Schichten für die saublöde Kathy Cornelius schieben müssen?«
»Das hätte auch nichts gebracht«, sagte meine Mutter. »Eine Frau wie die sieht sich immer als Opfer. Alle sind gegen sie, komme, was wolle.«
Ich war so wütend und aufgebracht, dass ich vorübergehend zu meinen Eltern ans andere Ende der Stadt zog. Jeden Tag fuhr meine Mutter mich zur festgesetzten Zeit zum Pfannkuchenhaus, aber es war nicht dasselbe. Auf dem Fahrrad konnte ich meinen Gedanken hinterher hängen, doch jetzt musste ich mir auf dem Hinweg wie auf dem Rückweg ihre ständigen Belehrungen anhören. »Was hast du dir davon versprochen, das Mädchen in deine Wohnung zu lassen? Komm mir jetzt nicht mit dem Spruch, du woll test ihr Leben bereichern, ich habe gerade gegessen.« Ich bekam es an diesem Abend zu hören und am nächsten Morgen gleich noch einmal. »Soll ich dich zurück zu deiner Baracke fahren?«, fragte sie, aber ich war so wütend auf sie, dass ich lieber den Bus nahm.
Ich hatte gedacht, schlimmer könnte es nicht kommen, bis zu jenem A bend. Ich kam gerade aus dem Pfannkuchenhaus zurück und stand auf dem Treppenabsatz vor Brandis Tür, als ich sie »Schwuchtel« flüstern hörte. Sie hielt ihren Mund vor das Schlüsselloch, und ihre Stimme klang dünn und melodisch. Genau so hatte ich mir immer die Stimme einer Motte vorgestellt. »Schwuchtel. Was ist los? Traurig, wie?«
Sie lachte, während ich eilig in meiner Wohnung verschwand, dann rannte sie auf die Veranda und setzte ihr Programm durch die Schlafzim mertür fort: »Kleine Schwuchtel, kleiner Aufschneider. Du hältst dich ja für so schlau, dabei bist du saublöd.«
»Das war’s dann«, sagte meine Mutter. »Du musst da weg.« Kein Wort davon, zur Polizei oder zur Fürsorge zu gehen, nur: »Pack deine Sachen. Sie hat gewonnen.«
»Aber kann ich nicht ...«
»Nichts da«, sagte meine Mutter. »Du hast sie da
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