Nachtprogramm
denken. Es hatte alles mit meinem lächerlichen Plan zu tun, ein gutes Beispiel zu geben. »Du weißt, was wir jetzt tun müssen, nicht wahr?« Ich klang entschlossen und gerecht, bis ich an die Folgen dachte und mein Entschluss ins Wanken geriet. »Wir müssen jetzt rüber ... und deiner Mutter sagen, was du getan hast!«
Halb hatte ich gehofft, Brandi würde mir die Sache ausreden, aber sie zuckte nur mit den Schultern.
»Das kann ich mir denken«, sagte meine Mutter. »Ich meine, genauso gut hättest du mit ihr zu ihrer Katze gehen können. Hast du etwa erwartet, die Mutter würde für sie ein Tuch mit den Zehn Geboten sticken? Wach auf, Blödmann, die Frau ist eine Nutte.«
Natürlich hatte sie Recht. Brandis Mutter hörte mir mit vor der Brust verschränkten Armen zu, ein gutes Zeichen, bis mir aufging, dass ihr Zorn sich gegen mich anstatt gegen ihre Tochter richtete. In der hinteren Ecke des Zimmers reinigte sich ein langhaariger Mann mit einer Schere die Fin gernägel. Er blickte kurz zu mir herüber und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder dem Fernseher zu.
»Sie hat also einen Radiergummi genommen?«, sagte Brandis Mutter. »Und was soll ich jetzt bitte schön tun? Eins-eins-null anrufen?« Sie sagte das in einem beängstigend gleichgültigen Ton.
»Ich dachte nur, Sie sollten wissen, was passiert ist«, sagte ich.
»Na prima. Jetzt weiß ich’s.«
Ich ging zur ück in meine Wohnung und horchte an der Wand im Schlaf zimmer. »Wer war das?«, fragte der Typ.
»Ach, nur so ein Arschloch«, sagte Brandis Mutter.
Danach k ühlte unser Verhältnis merklich ab. Ich konnte Brandi den Ein stieg in mein Apartment verzeihen, aber nicht ihrer Mutter. Nur so ein Arschloch. Ich wollte zu der Bar fahren, wo sie arbeitete, und sie abfackeln. Wenn ich über die Geschichte sprach, hörte ich mich Sätze sagen, die ich offenbar aus dem Radio aufgeschnappt hatte. »Kinder wollen Grenzen«, sagte ich. »Sie brauchen sie.« Für mich klang das sehr vage, aber alle ande ren schienen dem zuzustimmen, ganz besonders meine Mutter, die vorschlug, in diesem besonderen Fall könnte eine anderthalb mal drei Meter große Zelle weiterhelfen. Noch gab sie nicht mir allein die Schuld, und es tat gut, mit ihr darüber zu reden und mich am wohligen Feuer ihrer Wut zu wärmen.
Als Brandi das n ächste Mal an der Tür klopfte, tat ich so, als sei ich nicht da – ein Trick, auf den niemand hereinfiel. Sie rief meinen Namen, erkann te, was gespielt wurde, und setzte sich zu Hause vor den Fernseher. Ich hat te nicht vor, ewig zu schmollen. Ein paar Wochen Funkstille, so stellte ich mir vor, und wir k önnten da weitermachen, wo wir aufgehört hatten. In der Zwischenzeit begegnete ich ihr ein paar Mal vor dem Haus. Sie stand einfach nur da, als warte sie auf jemanden, der sie abholen kam. »Hallo, wie geht’s?«, fragte ich, erntete dafür aber nur ein dünnes, verkniffenes Lä cheln, so wie man einen verhassten Menschen anlächelt, der an einem vor beiläuft und den Hintern voller Schokoladenflecken hat.
In den besseren Tagen unseres Viertels war das Haus, in dem wir wohnten, ein Einfamilienhaus gewesen, und manchmal stellte ich mir vor, wie es früher ausgesehen hatte, mit hohen Räumen und Kronleuchtern, ein imponierender Haushalt, der von einer Schar Mägde und Kutscher in Gang gehalten wurde. Eines Nachmittags brachte ich den Müll nach unten und stieß dabei auf einen Raum, der einmal der Kohlenkeller gewesen war, ein finsteres, halbhohes Loch, in dem jetzt Dachziegel und schimmelige Papp kartons standen. Auf dem Boden lagen durchgebrannte Sicherungen und aufgerollte Elektrokabel, und ganz hinten entdeckte ich einen Stapel mit Dingen, die mir gehörten und deren Fehlen ich noch gar nicht bemerkt hatte – Fotos, zum Beispiel, und Dias von meinen missratenen Grafiken. Die Feuchtigkeit hatte die Hüllen aufgeweicht, und als ich mich rückwärts aus dem Keller zwängte und die Dias gegen das Licht hielt, sah ich, dass die Bilder zerkratzt waren, nicht zufällig, sondern absichtlich mit einer Nadel oder einer Rasierklinge. »Du bis ein Asloch«, stand auf einem. »Lutz mein Swanz.« Die Wörter waren voller Fehler, und die wirre, ungestüme Schrift bildete irre Muster, wie man sie von Geisteskranken kennt, die nicht wissen, wann man aufhören muss. Es war genau der Effekt, nach dem ich mit meiner seichten, nachgemachten Volkskunst gesucht hatte, sodass ich mich nicht nur geschändet fühlte, sondern auch neidisch war. Ich meine,
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