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Nachtprogramm

Nachtprogramm

Titel: Nachtprogramm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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»Die gehört mir, nicht dir.« Gelegentlich schenkte ich ihr Kleinigkeiten, die sie immer in Ehren halten würde. Eine Postkarte von der Akropolis, vorfrankierte Umschläge, ein Päckchen Papiertücher mit dem Logo von Olympic Airlines. »Wirklich?«, fragte sie. »Für mich?«
    Ihr einzig nennenswerter Besitz war eine dreißig Zentimeter hohe Puppe in einer durchsichtigen Plastikschachtel. Es war die Billigversion einer die ser Sammelpuppen in Kostümen aus der ganzen Welt, eine Spanierin in ei nem Rote-Beete-farbenen Kleid und mit einer ramschigen Mantilla auf dem Kopf. Auf der Rückwand der Schachtel war die Heimat der Puppe aufge druckt: eine von Pinien gesäumte Straße, die sich einen Hügel hinauf bis zu einer staubigen Stierkampfarena wand. Sie hatte die Puppe von ihrer Großmutter bekommen, die vierzig Jahre alt war und in einem Wohnwagen neben einem Armystützpunkt wohnte.
    »Was ist das?«, fragte meine Mutter. »Ein Sketch aus Hee Haw? Wer zum Teufel sind diese Leute?«
    »Diese Leute«, sagte ich, »sind meine Nachbarn, und ich möchte nicht, dass du dich über sie lustig machst. Die Großmutter muss das nicht haben, ich muss das nicht haben, und ich bin mir ziemlich sicher, eine Neunjährige muss das auch nicht haben.« Ich erzählte ihr nicht, dass die Großmutter mit Spitznamen Filou hieß und dass sie auf dem Foto, das Brandi mir gezeigt hatte, eine abgeschnittene Jeans und ein Fußkettchen trug.
    »Wir reden nicht mehr mit ihr«, hatte Brandi gesagt, als ich ihr das Bild zurückgab. »Sie gehört nicht mehr zu uns, und wir sind froh darüber.« Ihre Stimme klang flach und tonlos, und ich hatte den Eindruck, als hätte ihre Mutter ihr den Satz eingetrichtert. Mit ähnlicher Stimme stellte sie mir ihre Puppe vor. »Die ist nicht zum Spielen. Nur zum Anschauen.«
    Wer auch immer diese Regel aufgestellt hatte, hatte sie offenbar mit ei ner Drohung unterstrichen. Brandi fuhr mit dem Finger die Au ßenhülle ent lang, wie um sich in Versuchung zu bringen, aber nicht ein Mal sah ich sie diese Schachtel öffnen. Gerade so, als würde die Puppe explodieren, wenn man sie aus ihrer natürlichen Umgebung nahm. Ihre Welt war diese Schachtel, und es war tatsächlich eine äußerst seltsame Welt.
    »Sieh nur«, sagte Brandi eines Tages, »sie ist auf dem Weg nach Hause, um die Muscheln zu kochen.«
    Sie meinte damit die Kastagnetten, die am Handgelenk der Puppe bau melten. Es war ein lustiger, kindlicher Gedanke, und ich h ätte es vermutlich lieber dabei belassen sollen, anstatt den Neunmalklugen zu spielen. »Wenn es eine amerikanische Puppe wäre, könnten es Muscheln sein«, sagte ich. »Aber sie ist eine Spanierin, und diese Dinger heißen Kastagnetten.« Ich schrieb das Wort auf einen Zettel. »Kastagnetten, schau im Lexikon nach.«
    »Sie ist nicht aus Spanien, sondern aus Fort Bragg.«
    »Nun ja, vielleicht wurde sie dort gekauft« , sagte ich. »Aber sie soll eine Spanierin darstellen.«
    »Und was soll das nun wieder heißen?« Wegen der fehlenden Augenbrauen war es nicht leicht zu sagen, aber ich glaube, sie war wütend auf mich.
    »Es soll gar nichts heißen«, sagte ich. »Es ist so.«
    »Du lügst. Den Ort gibt’s überhaupt nicht.«
    »Und ob es den gibt«, sagte ich. »Er liegt gleich neben Frankreich.«
    »Ach ja. Und was ist das, ein Geschäft?« Ich konnte nicht glauben, dass ich diese Unterhaltung führte. Wie konnte man nicht wissen, dass Spanien ein Land war? Selbst wenn man erst neun war, musste man doch im Fernsehen oder sonst wo davon gehört haben. »Oh, Brandi«, sagte ich. »Wir müssen eine Weltkarte für dich auftreiben.«
    Weil es mir anders nicht möglich war, folgten unsere Treffen einem strengen Zeitplan. Ich hatte einen Halbtagsjob auf dem Bau und kam um Punkt 5.30 Uhr nach Hause. Fünf Minuten später klopfte Brandi an meine Tür und blinzelte mich an, bis ich sie hereinließ. Ich beschäftigte mich zu der Zeit gerade mit Schnitzarbeiten und fertigte Holzfiguren, deren Köpfe den Werkzeugen nachempfunden waren, mit denen ich es tagsüber auf dem Bau zu tun hatte: einem Hammer, einem Beil, einer Drahtbürste. Bevor ich mich an die Arbeit machte, legte ich Papier und Buntstifte auf meinen Schreibtisch. »Zeichne deine Puppe«, sagte ich. »Male die Stierkampfarena im Hintergrund. Lerne, dich auszudrücken!« Ich ermunterte sie, ihren Hori zont zu erweitern, aber gewöhnlich gab sie schon nach wenigen Minuten mit der Begründung auf, es sei ihr zu anstrengend.
    Die meiste Zeit

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