Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtprogramm

Nachtprogramm

Titel: Nachtprogramm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
Vom Netzwerk:
sind?«, fragte ich.
    »Ach, sagen wir drei Uhr.«
    Er ging in sein Schlafzimmer, und ich begann mir Gedanken zu machen, was ich tun würde, sollte er vom Wecker nicht wach werden. Was war schlimmer, einem Fremden ein Zäpfchen in den After zu schieben oder sich verantwortlich dafür zu fühlen, wenn sein Herz zu schlagen aufhörte? Wie bei den meisten Dingen, hing es ganz von der Person ab. Der Mann hatte sich nie bei meinem Boss über mich beschwert, und er war so vorausschau end gewesen, mir einen Plastikhandschuh zu geben, warum also sollte ich ihm den Gefallen nicht tun?
    Um drei ging der Wecker, doch gerade als ich meinen ganzen Mut zusammennehmen wollte, kam der Gutachter erfrischt und mit neuem Schwung für den Nachmittag aus dem Schlafzimmer. In der folgenden Woche war er wieder bei der Arbeit, und obwohl ich noch zwei weitere Jahre sein Apartment putzte, sahen wir uns nie wieder.
    Mein Boss war entsetzt, als ich ihm die Geschichte erz ählte, doch mir erschien sie rückblickend wie ein Abenteuer. Es war ziemlich langweilig, den ganzen Tag allein zu sein, deshalb bat ich ihn um mehr Aufträge bei Kunden, die tagsüber zu Hause waren. Oft handelte es sich dabei um einmalige Angelegenheiten. Der Wohnungsbesitzer hatte eine besonders wüste Party geschmissen oder die Handwerker im Haus gehabt und brauchte nun jemanden, der den ganzen Dreck wegmachte. Einmal war ich in der Wohnung eines früheren Playmates, die Hilfe beim Umräumen ihrer Schränke brauchte. Wir kamen miteinander ins Gespräch, und sie zeigte mir Fotos ihrer drei Exehemänner und erklärte, das Motto ihrer Familie laute: Eat, drink and remarry.
    »Der ist uralt«, sagte mein Boss, aber für mich war der Spruch neu.
    Im Dezember 1992 wurde eine Kurzgeschichte von mir im Radio gesen det, und sechs Monate sp äter brachte die New York Times einen kleinen Ar tikel unter der Überschrift: DER FENSTERPUTZER AUS DEM RADIO. Er erschien in der Sonntagsausgabe, und gegen zehn hatte ich die ersten Leute am Telefon, die mich fürs Putzen engagieren wollten. Viele Anrufer wollten allerdings nur, dass ich über Dinge berichtete, die sie für bedeutend oder ungerecht hielten: diskriminierende Einstellungspraktiken, Geheimtreffen des Firmenvorstands, ein umstrittener medizinischer Durchbruch, der von den Großen an der Spitze unterdrückt wurde. »Das ist nicht mein Gebiet«, erklärte ich, aber sie blieben hartnäckig und bearbeiteten mich mit so genannten »Nummern wichtiger Kontaktpersonen«, die immer nur flüsternd weitergegeben wurden, als lauerten überall Spione.
    Wenn Leute sich privat bei mir meldeten, bat ich sie, in der Firma anzu rufen und mit dem Boss einen Termin zu vereinbaren. Dadurch bewies ich meine Loyalit ät und hielt mir die offensichtlichen Härtefälle vom Hals, die sich beschwerten, Opfer einer groß angelegten Verschwörung zu sein. Einen Monat nach Erscheinen des Artikels fuhr mein Boss in die Ferien, und kurz darauf rief ein Fremder an und fragte, ob ich noch einen Termin am Wochenende frei hätte. Er gab mir seinen Namen, Martin, und eine Adresse auf der Achtzigsten East. Ich schlug Sonntag um zwei vor und hatte gerade aufgelegt, als er noch einmal anrief. »Zwei Uhr morgens oder zwei Uhr nachmittags?«, fragte er.
    »Nachmittags«, sagte ich.
    Später ging mir auf, dass dies das erste Alarmzeichen war.
    Die Upper East Side ist an Sommerwochenenden wie ausgestorben, und auf dem Weg von der U-Bahn-Station in Richtung Norden begegneten mir nicht mehr als ein Dutzend Leute. Martin wohnte im fünfzehnten Stock eines Hochhausneubaus. Der Wachmann kündigte mich an, und als ich aus dem Aufzug trat, sah ich eine Wohnungstür aufgehen und einen Mann seinen Kopf in den Flur stecken. Er schien Mitte vierzig zu sein, war untersetzt, hatte ein rundes, sonnenverbranntes Gesicht und fettige, strohblonde Haare, so fein wie die eines Säuglings. Schweißringe hatten sich unter den Achseln seines T-Shirts gebildet, das sich eng um den Bauch spannte und ein Segelboot in stürmischer See zeigte. »Habe ich mit Ihnen telefoniert?«, fragte er.
    Über meine Bestätigung schien er leicht enttäuscht, als seien Leute wie ich das Los seines Lebens, doch dann klopfte er mir auf die Schulter und stellte sich vor.
    Ich hatte gedacht, Martin sei gerade von irgendeinem Fitnesstraining nach Hause gekommen, aber als ich seine Wohnung betrat, begriff ich, dass der Schweiß aus den eigenen vier Wänden stammte. Draußen herrschten Temperaturen knapp über dreißig

Weitere Kostenlose Bücher