Nachtprogramm
sah sie zu und lie ß ihre Augen zwischen meinem Messer und der spanischen Puppe vor ihr auf der Schreibtischplatte hin und her wandern. Sie erzählte mir, wie blöd ihre Lehrer wären, und fragte dann, was ich machen würde, wenn ich eine Million Dollar hätte. Hätte ich zu dem Zeitpunkt meines Lebens eine Million Dollar gehabt, hätte ich sie vermutlich bis auf den letzten Cent für Drogen ausgegeben, aber das verriet ich ihr nicht, weil ich ein gutes Vorbild sein wollte. »Lass mich nachdenken«, sagte ich. »Also, wenn ich das Geld hätte, würde ich es wahrscheinlich weggeben.«
»Klar, sicher doch. Du würdest dich auf die Straße stellen und es unter den Leuten verteilen?«
»Nein, ich würde eine Stiftung gründen und mich dafür einsetzen, dass es einigen Menschen besser geht.« Darüber musste sogar die Puppe lachen.
Als ich sie fragte, was sie mit einer Million Dollar machen würde, zählte Brandi Autos und Kleider und schwere, mit Edelsteinen besetzte Halsketten auf.
»Aber was ist mit den anderen? Willst du nicht auch andere glücklich machen?«
»Nein. Ich will sie neidisch machen.«
»Das meinst du doch nicht im Ernst«, sagte ich.
»Probier’s doch.«
»Ach, Brandi.« Ich machte ihr ein Glas Kakao, und sie setzte ihre Liste bis 6.55 Uhr fort, dem offiziellen Ende unserer Freundschaftsbesuche. Wenn ich nur langsam vorangekommen war und es nicht viele Späne aufzufegen gab, durfte sie auch schon mal zwei Minuten länger bleiben, aber dann war endgültig Schluss.
»Warum muss ich immer auf die Minute gehen?«, fragte sie eines Abends. »Musst du zur Arbeit oder was?«
»Äh, nein, nicht direkt.«
»Warum hast du es dann so eilig?«
Ich h ätte es ihr nie sagen sollen. Das Gute im Leben eines Zwangsneuro tikers ist, dass man nie zu spät zur Arbeit kommt. Das Schlechte ist, dass man alles andere ebenfalls genau nach der Uhrzeit macht. Das Ausspülen der Kaffeetasse, das Bad in der Wanne, der Gang zum Waschsalon – es gibt nicht das kleinste Geheimnis in den alltäglichen Verrichtungen, keinen Raum für Spontaneität.
Zu der Zeit ging ich jeden Abend ins Pfannkuchenhaus, radelte um punkt sieben von zu Hause los und war Punkt neun wieder zur ück. Ich aß dort nie etwas, sondern trank nur Kaffee, immer am gleichen Tisch am gleichen Platz, und las genau eine Stunde lang Bücher aus der Bibliothek. Danach fuhr ich zum Supermarkt, selbst wenn ich gar nichts brauchte, weil mein Zeitplan das so vorsah. Gab es keine Schlangen an der Kasse, nahm ich den langen Weg nach Hause oder umkreiste ein paar Mal den Block, weil ich unmöglich fünf oder zehn Minuten zu früh nach Hause kommen konnte, denn diese Minuten waren nicht als Zeit in der Wohnung vorgesehen.
»Was wäre, wenn du zehn Minuten zu spät kommst?«, fragte Brandi. Meine Mutter stellte mir oft die gleiche Frage – alle taten das. »Glaubst du, die Welt stürzt ein, wenn du erst um vier nach neun durch die Tür gehst?«
Sie sagten es im Scherz, aber meine Antwort war Ja, genau das, glaubte ich, würde passieren. Die Welt würde einstürzen. An Abenden, an denen ein anderer Gast meinen Platz im Pfannkuchenhaus belegte, war ich am Boden zerstört. »Stimmt was nicht?«, fragte die Kellnerin, und ich war nicht einmal in der Lage, überhaupt etwas zu sagen.
Brandi war seit etwas über einen Monat Teil meines Zeitplans, als ich erstmals bemerkte, dass gewisse Dinge in meiner Wohnung fehlten – Radiergummis oder die kleinen Abrechnungsblöcke, die ich aus Griechenland mitgebracht hatte. Als ich in Schränken und Schubladen danach stöberte, entdeckte ich, dass noch andere Dinge fehlten, eine Schachtel Heftzwecken, ein Schlüsselanhänger in der Form einer Erdnuss.
»Ich weiß, wo die Sachen hin sind«, sagte meine Mutter. »Deine kleine Freundin ist über die Terrassentür eingestiegen und hat sie mitgehen lassen, während du im Pfannkuchenhaus warst. Genau das ist passiert, nicht wahr?«
Ich war wütend, dass sie so schnell dahinter gekommen war. Als ich Brandi zur Rede stellte, gab sie sofort alles zu. Es war, als hätte sie nur auf die Gelegenheit zu gestehen gewartet und ihr Geständnis sogar einstudiert. Die gestammelte Entschuldigung, das Flehen um Gnade. Sie hielt meine Hüften umklammert, und nachdem sie endlich losließ, fühlte ich mit der Hand über mein Hemd, das ich feucht von Tränen glaubte. Das war es aber nicht. Ich weiß nicht, was mich zu dem nächsten Schritt veranlasste, das heißt, doch, ich kann es mir zumindest
Weitere Kostenlose Bücher