Nachtprogramm
erinnerten. Auf dem zerwühlten Bett lagen fünf Laken übereinander, und während ich mir noch den Kopf darüber zerbrach, kam Martin ins Zimmer und setzte sich auf einen Klappstuhl. Die Unterhaltung in der Küche hatte er abgehakt und schien es noch mal von vorne versuchen zu wollen. »Oh, das sieht ja nach richtig harter Arbeit aus.«
»Wie können Sie mit fünf Laken gleichzeitig schlafen?«
»Nun«, sagte er. »Ich habe Diabetes. Mir wird schnell kalt.«
Ich hatte davon noch nie gehört. »Frieren alle Diabetiker im Sommer?«
»Da müssen Sie sie schon selbst fragen.« Er griff in eine offene Schublade und zog ein Plastikgerät in der Größe eines Walkmans heraus. »Ich habe eine Idee«, sagte er. »Was halten Sie davon, wenn wir Ihren Blutzucker testen!«
»Jetzt?«
»Klar«, sagte er. »Warum nicht?«
Ich hätte ihm ein Dutzend Gründe nennen können.
»Ich pikse bloß Ihren Finger, wische das Blut mit einem Papierstreifen ab und stecke ihn in das Gerät. Na, was sagen Sie?«
»Lieber nicht.«
»Die Nadeln sind einzeln verpackt«, sagte er. »Absolut steril. Sie brauchen keine Angst zu haben, dass Sie sich etwas holen.«
»Vielen Dank für das Angebot, aber ich verzichte lieber.«
Ich wollte das Bett machen und griff nach dem Kopfkissen, als er mein Handgelenk packte und mir die Nadel in den Finger stieß. »Erwischt!«,
sagte er. Ein kleiner Blutstropfen bildete sich auf der Kuppe meines Zeigefingers, und schon war er mit einem schmalen Papierstreifen zur Stelle, um ihn abzuwischen. »Jetzt stecken wir das hier rein ... und warten ein paar Sekunden.«
Die gute Nachricht war, dass mein Blutzucker einen ganz normalen Wert hatte. »Sie können sich glücklich schätzen«, sagte Martin. »Meiner ist völlig von der Rolle.« Er zeigte mir eine Narbe mitten auf dem Kopf und erklärte mir, wie er vor einigen Monaten auf dem Boden im Wohnzimmer aufgewacht sei und in einer dicken Blutlache gelegen habe. »Totaler Blackout«, sagte er. »Ich muss beim Sturz auf den Glastisch geknallt sein.« Im Jahr davor war er auf der Straße bewusstlos geworden und hatte eine Nacht im Rinnstein gelegen. »Bei meinem Zustand ist mit allem zu rechnen«, sagte er.
Die Botschaft des Satzes lautete, dass er für sein Verhalten nicht verantwortlich war. Keine sehr beruhigende Nachricht, aber ich blieb trotzdem, nicht aus Mitleid, sondern weil ich nicht wusste, wie ich mich verabschieden sollte. Es hätte seltsam ausgesehen – seltsamer zumindest, als zu blei ben –, und obwohl ich ernstlich darüber nachdachte, fiel mir keine passable Ausrede ein. Außerdem wurde ich den Gedanken nicht los, dass ich den Bluttest in gewisser Weise verdient hatte. Ich hatte ihn gefragt, wen seine Mutter mehr liebe, ihn oder seine Schwester. Ich war mir clever vorgekommen und stolz auf meine Fähigkeit, Leute zu vergraulen, und das war die gerechte Strafe dafür. In meinen Augen waren wir jetzt quitt.
Nachdem ich mit dem Schlafzimmer fertig war, gingen wir hinüber ins Wohnzimmer, Martin immer zwei Schritte hinter mir. Ich legte verstreute Zeitungen und Magazine auf einen Stapel und machte mich daran, den Fernseher abzustauben, als Martin sich auf die Couch fallen ließ und per Fernbedienung ein Pornovideo startete. Es war eine Militärgeschichte. Ein aufmüpfiger Gefreiter hatte die Stiefel seines Sergeanten nicht vernünftig gewichst und erwartete dafür eine harte Bestrafung. »Kennen Sie den?«, fragte Martin. Ich erklärte ihm, ich hätte keinen Videorekorder, und wandte mich rasch ab, als er seine Shorts auszog.
Mein großes Vorbild als Putzkraft war eine Frau namens Lena Payne, die Ende der sechziger Jahre bei uns arbeitete. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, sah ich andächtig zu, wie sie auf den Knien den Küchenboden schrubbte. »Nehmen Sie einen Mopp«, sagte meine Mutter, »so wie ich«, woraufhin Lena beschämt den Kopf senkte. Sie wusste Dinge, die meine Mutter nicht wusste. Entweder man will einen sauberen Fußboden, oder man will mit dem Mopp putzen, aber beides zusammen geht nicht. Ob es ums Bügeln oder um die Bestrafung der Kinder ging, Lena wusste alles am besten, und so wurde sie für unseren Haushalt unentbehrlich. Wie sie wollte auch ich das Kommando über einen Haushalt führen und Leuten das Gefühl geben, träge und verzogen zu sein, ohne es je laut sagen zu müssen. »Hattet ihr nicht gestern erst Kartoffelchips?«, fragte sie und blickte vorwurfsvoll auf die Schüssel so groß wie eine Kesselpauke, die
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