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Nachtprogramm

Nachtprogramm

Titel: Nachtprogramm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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meine Schwestern und ich vor dem Fernseher stehen hatten. Indem sie so tat, als kämen uns die Kartoffelchips bereits zu den Ohren heraus, schmeckten sie plötzlich schal, und sie musste abends weniger Krümel vom Boden saugen. Sie war nicht nur helle, sondern auch eine Eins in ihrem Job. Ich himmelte sie an.
    Als ich jetzt mit schwei ßtropfender Stirn in Martins Wohnzimmer stand, fragte ich mich, was Lena wohl gesagt hätte, wenn einer von uns sich die Hose heruntergezogen und zu einem Film mit dem Titel Fort Dicks masturbiert hätte. Wir hatten damals kein Video, aber wenn wir eins gehabt hätten, hätte sie vermutlich das Gleiche wie ich gesagt: »Ich habe keinen Videorekorder.« Ich hätte dann auf der Stelle aufgehört, aber Martin war offenbar anders verkabelt.
    Ratsch, ratsch, ratsch. Ratsch, ratsch, ratsch. Martins Unterarm schlug im Takt gegen eine Zeitung, die neben ihm auf der Couch lag, und ich stell te den Staubsauger an, um das Geräusch zu übertönen. Ich wollte auf keinen Fall ihn oder den Bildschirm sehen, also starrte ich stur auf den Boden und bearbeitete immer die gleiche Stelle, bis mir die Schulter wehtat und ich auf die andere Hand wechselte. Tu einfach so, als wäre nichts, redete ich mir ein, aber dies war etwas anderes, als einen Musiker in der U-Bahn oder einen Verrückten an der Theke im Diner zu ignorieren. Wie der Husten eines Kranken verbreiteten Martins Anstrengungen Keime, einen schwächenden Schambazillus, der durch den Raum schwirrte und nach einem neuen Wirt suchte. Wie schrecklich ist es, danebengelegen zu haben, sich vorgewagt und ein Angebot gemacht zu haben, das nicht erwidert wird. Ich musste an die barbusige Hausfrau denken, die einem schwulen UPS-Boten öffnet, an die unzähligen Artikel, die einen dazu auffordern, den Partner zu überraschen und den Nachtisch nackt zu servieren oder einen spontanen Striptease hinzulegen. Nie steht dabei, was man machen soll, wenn der andere aus dem Zimmer geht oder einen mit einem Blick voller Abscheu und Mitleid ansieht, bei dem einem zehn, zwanzig, fünfzig Jahre danach immer noch heiß wird, wenn man nur daran denkt. Ich hatte darin einige Erfahrung, und Martins trübsinnige, verbohrte Vorführung spülte alles wieder hoch. Ich musste an das eine Mal denken, als ... Und dann war da ...
    Ratsch, ratsch, ratsch. Ratsch, ratsch, ratsch.
    Sein Masturbieren diente inzwischen mehr dem Beweis der eigenen Ausdauer als dem Lustgewinn. Natürlich hätte er auch aufhören können, verdammt noch mal, aber schließlich gehörte er zu den Leuten, die eine Sache bis zum bitteren Ende durchziehen, ob es nun darum ging, sich vor ei nem Fremden zum Idioten zu machen oder bei jemandem das Wohnzimmer zu saugen. Das schaff ich schon, denkt man. Das schaff ich schon. Zuletzt schaffte er es tatsächlich und kam mit einem freudlosen, lang gezogenen Stöhnen. Die Zeitung hörte auf zu rascheln, das Video wurde ausgeschaltet, und Martin verzog sich ins Schlafzimmer, nachdem er zuvor seine Hose wieder hochgezogen hatte. Ich ging davon aus, ihn nicht noch einmal zu sehen, und war deshalb überrascht, als er kurz darauf mit einem Bündel Scheine in der Hand zurückkam.
    »Sie können jetzt Schluss machen«, sagte er.
    »Aber ich bin noch nicht fertig.«
    »Ich denke schon«, sagte er. Dann trat er auf mich zu und blätterte mir nacheinander die Geldscheine in die Hand. »Zwanzig, vierzig, sechzig, achtzig ...« Er zählte ruhig und mit einer anderen Stimme als in den vergangenen zwei Stunden. Sie war höher und weniger drängend, und es war auch etwas von Erleichterung zu spüren, als hätte er sich die ganze Zeit zu einer Rolle gezwungen. »Einhundertzehn, einhundertzwanzig ...« Er zählte bis zweihundert, das Sechsfache meines normalen Verdienstes. »Stimmt so, oder?«, fragte er, und noch ehe ich etwas sagen konnte, legte er noch einmal dreißig Dollar Trinkgeld drauf.
    »Darf ich Sie mal etwas fragen?«, sagte ich.
    Wenn ich die Geschichte nachher jemandem erzählte, war es immer der folgende Teil, der mir die größten Schwierigkeiten bereitete, einmal, weil er so unwahrscheinlich klang, aber mehr noch, weil er nach der Blutprobe und den fünf übereinander liegenden Laken einfach zu viel war. Ich ging davon aus, dass Martin durch die New York Times auf mich aufmerksam geworden war, und so war es auch. Er hatte den Artikel gelesen, meinen Namen auf einen Zettel notiert und meine Nummer aus dem Telefonbuch herausgesucht. Anscheinend hatte er aber auch die

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