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Nachtprogramm

Nachtprogramm

Titel: Nachtprogramm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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nachdem sie zur Chefin aufgestiegen war. Aus Interesse für Fotografie brachte sie sich selbst den Umgang mit einer Kamera bei und landete zuletzt einen Job in der Fotoabteilung eines großen interna tionalen Pharmakonzerns, für den sie Aufnahmen von Mikroben, Viren und den Reaktionen von Menschen auf Mikroben und Viren machte. An Wochenenden verdiente sie sich als Fotografin auf Hochzeiten noch etwas da zu, was in der Regel leicht verdientes Geld war. Dann heiratete sie und gab ihren Job bei dem Pharmakonzern auf, um einen Uniabschluss in englischer Literatur nachzuholen. Als man ihr erklärte, der Bedarf an dreißigseitigen Essays über Jane Austen sei eher gering, erwarb sie eine Lizenz als Immo bilienmaklerin. Und als sie hörte, die Preise auf dem Häusermarkt seien am Boden, ging sie wieder zur Schule und lernte Gartenbau. Ihr Mann, Bob, bekam einen Job in Winston-Salem, also zogen sie dorthin und kauften ein neues, dreistöckiges Haus in einer ruhigen Vorortgegend. Ich konnte mir meine Schwester nur schwer an einem so gesetzten Ort vorstellen und war erleichtert festzustellen, dass weder sie noch Bob sich groß etwas daraus machten. Die Stadt war ganz hübsch, doch das Haus schien einen älter zu machen. Stand man davor, fühlte man sich nicht jung, aber immerhin sorgenfrei. Ging man durch die Tür, kam man sich automatisch zwanzig Jahre älter vor und begann sich Gedanken um die Altersvorsorge zu machen.
    Die Wohnung meiner Schwester lud wenig zum Schnüffeln ein, sodass ich die Stunde in der Küche verbrachte und mit Henry plauderte. Es war die gleiche Unterhaltung wie beim letzten Mal, doch fand ich sie immer noch faszinierend. Er fragte, wie es mir ginge. Ich sagte, danke, gut, und als könne sich innerhalb weniger Sekunden dramatisch etwas daran ändern, fragte er gleich noch einmal.
    Von allen Dingen im Erwachsenendasein meiner Schwester – das Haus, der Ehemann, ihr plötzliches Interesse für Pflanzen – ist nichts so irritierend wie Henry. Technisch gesehen handelt es sich um eine Blaustirnamazone, doch für den durchschnittlichen Laien ist es einfach ein großer Papagei, die Sorte, die man gelegentlich auf der Schulter eines Piraten sieht.
    »Wie geht es dir?« Beim dritten Mal klang es gerade so, als ob es ihm wirklich am Herzen liege. Ich näherte mich dem Käfig, um ihm ausführlich zu berichten, als er einen Satz gegen das Gitter machte und ich schreiend wie ein kleines Mädchen aus der Küche rannte.
    »Henry mag dich«, sagte meine Schwester kurze Zeit später. Sie war gerade von der Arbeit in der Pflanzenschule zurückgekommen, saß am Tisch in der Küche und band sich die Turnschuhe auf. »Sieh nur, wie er die Schwanzfedern spreizt! Für Bob macht er das nie, nicht wahr, Henry?«
    Bob war ein paar Minuten vor ihr nach Hause gekommen und gleich nach oben gegangen, um nach seinem eigenen Vogel zu sehen, einem fast kahlköpfigen Grünwangensittich, der auf den Namen Jose hört. Ich hatte geglaubt, die Vögel würden gelegentlich einen Plausch miteinander halten, aber wie sich herausstellte, konnten sich die beiden nicht ausstehen.
    »Erwähn bloß nicht den Namen Jose im Beisein von Henry«, flüsterte Lisa. Bobs Vogel kreischte von oben herab, und der Papagei antwortete mit einem hohen, durchdringenden Bellen. Er hatte den Trick von Lisas Bor dercollie Chessie aufgeschnappt, und das Beeindruckendste daran war, dass er tatsächlich genau wie ein Hund klang. Er konnte auch Lisa täuschend nachmachen, wenn er Englisch redete. Es war unheimlich, die Stimme meiner Schwester aus seinem Schnabel zu hören, aber ich kann nicht sagen, dass es unangenehm war.
    »Wer hat Hunger?«, fragte sie.
    »Wer hat Hunger?«, wiederholte die Stimme.
    Ich hob die Hand, und sie hielt Henry eine Erdnuss hin. Ich sah zu, wie er sie mit seinen Krallen festhielt, wobei sein Bauch beinahe bis auf die Sitzstange sackte, und konnte mir vorstellen, was jemand an einem Papagei fand. Der seltsame kleine Fettwanst in der K üche meiner Schwester war ein verständnisvoller Zuhörer, und zwischendurch kam er immer wieder mit der Frage: »Sag, wie geht es dir?«
    Auch ich hatte ihr diese Frage gestellt, und sie hatte gesagt: »Oh, danke. Gut.« Sie hat Angst, mir irgendetwas Wichtiges zu erzählen, weil sie weiß, dass ich darüber schreiben werde. Ich sehe mich gerne als eine Art harmloser Lumpensammler, der aus den Abfällen, die er hier und da aufliest, etwas Neues macht, aber meine Familie ist da mittlerweile ganz anderer

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