Nachtprogramm
sie und Bob seine Eltern in den Bergen besucht hatten. Lisa hatte am Kamin gesessen und ihren Sessel vom Feuer weg in die Mitte des Raums geschoben, als ihr Schwiegervater sagte: »Was ist los, Lisa? Zu dick – ich meine, zu heiß. Wird es dir zu heiß?«
Er versuchte seinen Versprecher zu vertuschen, aber es war zu sp ät. Das Wort hatte sich längst ins Hirn meiner Schwester eingebrannt.
»Muss ich im Film auch dick sein?«, fragte sie.
»Natürlich nicht«, sagte ich. »Du musst einfach nur so sein, wie du bist.«
»Nach wessen Vorstellung?«, fragte sie. »Der von Chinesen?«
»Naja, nicht von allen«, sagte ich. »Nur von einem.«
Wenn sie sonst unter der Woche zu Hause ist, liest Lisa gerne Romane aus dem achtzehnten Jahrhundert, unterbrochen vom Mittagessen um eins und einer anschließenden Folge von Matlock. Als wir von unseren Einkäufen zurückkamen, war die Folge für diesen Tag bereits gelaufen, und wir beschlossen, ins Kino zu gehen. Lisa sollte sich einen Film aussuchen. Sie entschied sich für die Geschichte einer jungen Engländerin, die mit ihren Pfunden kämpft und sich nicht unterkriegen lassen will, doch zuletzt verwechselten wir die Plazas und landeten vor dem falschen Kino, in dem Du kannst auf mich zählen lief, Kenneth Longmans Film über einen umherzie henden Bruder, der seine ältere Schwester besucht. Normalerweise redet Lisa im Kino von Anfang bis Ende. Wenn jemand auf der Leinwand ein Hühnchensandwich mit Mayonnaise bestreicht, beugt sie sich zu einem herüber und flüstert: »Das habe ich auch mal gemacht, und dabei ist mir das Messer in die Kloschüssel gefallen.« Danach lehnt sie sich in ihren Sitz zurück, und ich denke die nächsten zehn Minuten angestrengt nach, was jemanden dazu bringt, sein Hühnchensandwich im Bad zu schmieren. Der Film spiegelte auf so gespenstische Weise unser Leben, dass sie, soweit ich mich erinnerte, zum ersten Mal seit langem wie gebannt dasaß und schwieg. Es gab überhaupt keine äußere Ähnlichkeit zwischen uns und den Hauptdarstellern – Bruder und Schwester im Film waren jünger und Waisen –, doch wie wir stolperten sie ins Erwachsenendasein, indem sie den alten, engen Rollen ihrer Kindheit folgten. Hin und wieder brach einer von ihnen aus, aber die meiste Zeit verhielten sie sich nicht so, wie sie wollten, sondern wie es von ihnen erwartet wurde. In Kürze: Ein Typ steht plötzlich vor dem Haus seiner Schwester und bleibt ein paar Wochen, bis sie ihn rauswirft. Sie will ihm nichts Böses, aber seine Gegenwart zwingt sie, über gewisse Dinge nachzudenken, über die sie lieber nicht nachdenken möchte, was die eigentliche Hauptaufgabe von Familienmitgliedern ist, jedenfalls von denen, die meine Schwester und ich kennen.
Nach dem Kino liefen wir eine Zeit lang stumm und betreten nebeneinander her. Das Erlebnis des gerade gesehenen Films und die Gedanken an den bevorstehenden Film machten uns verlegen und unsicher, als ob wir f ür unsere eigenen Rollen vorsprechen müssten. Nach einiger Zeit versuchte ich es mit einer belanglosen Meldung über den Schauspieler, der im Film die Rolle des Bruders gespielt hatte, brach aber mittendrin ab und sagte, eigentlich sei die Geschichte völlig unwichtig. Ihr fiel auch nichts ein, sodass wir weiter schwiegen und uns ein gelangweiltes Publikum vorstellten, das in seinen Kinosesseln hin und her rutschte.
Auf der Rückfahrt hielten wir kurz an einer Tankstelle und standen nachher vor ihrem Haus, als sie sich zu mir drehte und eine Geschichte erzählte, die ich inzwischen als die typische Lisa-Geschichte von ihr erwarte. »Einmal«, sagte sie, »war ich mit dem Wagen unterwegs.« Die Begeben heit fing mit einer harmlosen Fahrt zum Supermarkt an und endete, o Wun der, mit einem schwer verwundeten Tier, das sie in einen Kissenbezug gestopft und vor das Auspuffrohr ihres Wagens gehalten hatte. Wie die meisten Geschichten meiner Schwester rief es ein bestürzendes Bild im Kopf hervor, das einen Moment festhielt, in dem das eigene Handeln gleichzeitig unvorstellbar grausam und völlig selbstverständlich erscheint. Die Einzelheiten waren mit Bedacht ausgewählt, und das Erzähltempo zog langsam an, unterbrochen von einer Reihe klug gesetzter Pausen. »Und dann ..., und dann ...« Zuletzt kam der unausweichliche Höhepunkt, und ich musste laut lachen, während sie den Kopf aufs Lenkrad legte und zu schluchzen anfing. Es war kein sanfter Tränenstrom, ausgelöst durch die Erinnerung an eine einzelne Handlung
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