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Nachtprogramm

Nachtprogramm

Titel: Nachtprogramm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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Kaffee getrunken hatten, fuhren Lisa und ich nach Greensboro, wo ich meinen Vortrag hielt. Genauer gesagt, ich las Ge schichten über unsere Familie vor. Nach der Lesung beantwortete ich noch Fragen und musste die ganze Zeit daran denken, wie seltsam es war, dass diese wildfremden Menschen so viel über meine Geschwister wussten. Um abends einschlafen zu können, muss ich mich selbst verleugnen und mir einreden, dass die Menschen, die ich liebe, ausdrücklich von sich aus das Licht der Öffentlichkeit suchen. Amy macht mit ihrem Freund Schluss und schickt eine Pressemitteilung raus. Paul breitet seine Verdauung regelmäßig in nachmittäglichen Talkshows aus. Ich bin nicht der Kapellmeister, sondern nur der arme Schreiberling mittendrin, eine Täuschung, die umso schwerer aufrechtzuerhalten ist, wenn ein Mitglied der Familie leibhaftig im Publikum sitzt.
    Am Tag nach der Lesung meldete Lisa sich krank, und wir verbrachten den Nachmittag mit verschiedenen Besorgungen. Winston-Salem ist eine Stadt der Plazas – mittelgroße Einkaufszentren mit einem großen Supermarkt in der Mitte. Ich wollte Billigzigaretten einkaufen, und wir fuhren von Plaza zu Plaza, verglichen die Preise und redeten über unsere Schwester Gretchen. Ein Jahr zuvor hatte sie sich ein Paar Fleisch fressende chinesische Dosenschildkröten mit spitzen Nasen und einer gespenstisch durch scheinenden Haut gekauft. Die Tiere waren in einem Auslauf untergebracht und leidlich glücklich, bis sich Waschbären unter dem Draht durchwühlten und dem Weibchen die Vorderbeine und dem Männchen die Hinterbeine abbissen.
    »Kann auch sein, dass es umgekehrt war«, sagte Lisa. »Aber du kannst es dir vorstellen.«
    Das Schildkrötenpaar überlebte die Attacke und stellte weiter den ihnen zum Fressen vorgeworfenen lebenden Mäusen nach, indem sie wie ramponierte VW-Käfer über den Rasen pflügten.
    »Das Traurige an der Sache ist, dass sie es erst zwei Wochen später bemerkte«, sagte Lisa. »Zwei ganze Wochen!« Sie schüttelte den Kopf und fuhr an unserer Ausfahrt vorbei. »Tut mir leid, aber ich kann nicht verstehen, wie ein verantwortungsbewusster Tierhalter so lange brauchen kann, um so etwas zu bemerken. Das ist unverzeihlich.«
    Gretchen zufolge hatten die Schildkröten keine Erinnerung an ihr früheres Leben, aber Lisa wollte nichts davon wissen. »Ach, komm schon«, sagte sie. »Sie haben bestimmt Phantomschmerzen. Ich meine, wie sollte ein lebendiges Wesen seine Beine nicht vermissen? Wenn Chessie so etwas passieren würde, wüsste ich wirklich nicht, wie ich damit leben könnte.« Ihre Augen wurden feucht, und sie wischte mit dem Handrücken darüber. »Mein kleiner Collie braucht nur eine Zecke zu haben, und ich bin total fer tig.«
    Es ist typisch für Lisa, dass sie, als sie einmal Zeugin eines Autounfalls wurde, als Erstes sagte: »Ich hoffe nur, es war kein Tier im Wagen.« Menschliches Leid berührt sie nicht weiter, aber über die Krankengeschich te eines Tieres kann sie tagelang weinen.
    »Hast du den Film über diesen kubanischen jungen Mann gesehen?«, fragte sie mich. »Er lief hier einige Wochen, aber ich bin nicht hingegan gen. Irgendwer sagte, in der ersten Viertelstunde wird ein Hund getötet, da habe ich gleich abgewinkt.«
    Ich erinnerte sie daran, dass der Hauptdarsteller Aids hat und ebenfalls einen qualvollen Tod stirbt, woraufhin sie in die Parkbucht steuerte und erwiderte: »Also, ich hoffe nur, es war kein echter Hund.«
    Zuletzt kaufte ich die Zigaretten bei Tobacco USA, einem Billigshop mit dem Namen eines Themenparks. Lisa hatte das Rauchen vor zehn Jahren offiziell aufgegeben, hätte aber zwischendurch wieder angefangen, wäre Chessie nicht gewesen, die nach Auskunft des Tierarztes anfällig für Lungenkrankheiten war. »Ich will nicht, dass sie von dem Rauch ein Lungen emphysem bekommt, aber ich hätte nichts dagegen, ein paar Pfunde zu ver lieren. Sag ehrlich, bin ich zu fett?«
    »Überhaupt nicht.«
    Sie drehte sich zur Seite und betrachtete ihr Spiegelbild in der Frontscheibe von Tobacco USA. »Du lügst.«
    »Das wolltest du doch hören, oder?«
    »Schon«, sagte sie »Aber ich will, dass du es auch wirklich so meinst.«
    Dabei hatte ich es so gemeint. Es war nicht so sehr ihr Gewicht, das mir auffiel, sondern die Kleidung, unter der sie es zu verstecken suchte. Die weiten, flatterigen Hosen und die übergroßen Blusen, die ihr fast bis zum Knie hingen. Sie hatte mit diesem Look ein paar Monate zuvor angefangen, nachdem

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