Nachtruf (German Edition)
verziehen, dass ich nicht die Wahrheit darüber gesagt habe, was damals mit dir geschehen ist, Trevor. Wenn ich doch nur gesagt hätte, was er dir angetan hat …“
„Du warst völlig verängstigt. Du und Brian, ihr habt versucht, zu überleben. Ich verstehe das.“
„Verstehen ist nicht dasselbe wie Verzeihen“, murmelte sie.
Trevor betrachtete ihr Gesicht. Was er jetzt sagen wollte, war nicht leicht für ihn, aber er spürte, dass es an der Zeit war.
„Dass ich so lange fortgeblieben bin … der Grund war nicht, dass ich wütend war. Ich wollte mich nicht erinnern.“ Langsam schüttelte er den Kopf. „Ich habe wie verrückt versucht, unsere Kindheit und alles Schlechte, was wir erlebt haben, zu vergessen. Doch jedes Mal, wenn ich hierher zurückkam … jedes Mal, wenn ich dich und Brian sah … dann war plötzlich alles wieder Wirklichkeit.“ Trevor holte tief Luft. Alle Entscheidungen, die er im Laufe seines Lebens getroffen hatte, schienen ihm auf einmal fragwürdig. Er kämpfte gegen Bedauern und Reue an, die ihn überfielen. „Ich dachte, wenn ich nicht zurückkommen würde … könnte ich so eine Art Frieden finden. Aber mir wird jetzt klar, dass alles, was ich getan habe, mich von den Menschen entfernt hat, die mir am wichtigsten sind. Ich habe dich und Brian bestraft, weil ich nicht stark genug war, mit der Vergangenheit fertigzuwerden. Es tut mir leid.“
Sie drückte seine Hand. „Trevor, du bist der stärkste Mensch, den ich kenne.“
Er starrte auf das Plastikarmband vom Krankenhaus an seinem Handgelenk. Rivette. Durch sein Blut war er an diesen Namen gebunden, eine Verbindung, die offenbar nur schwer zu brechen war. Als er wieder zu seiner Schwester sah, bemerkte er den Schmerz in ihren Augen. Annabelles Selbstmordversuch, Brians Drogenmissbrauch und die Alkoholabhängigkeit ihrerMutter. Die Familiengeheimnisse hatten ihre Wurzeln um jeden von ihnen geschlungen und gedroht, sie mit hinunter in die Dunkelheit zu ziehen. Trevor war vor diesen machtvollen Ranken geflüchtet, als sie nach ihm gegriffen hatten.
„Rain glaubt, dass diese Erinnerungen, die du immer hast … sie denkt, dass eine Therapie helfen könnte.“ Annabelle blickte ihn unsicher an. „Würdest du darüber nachdenken, mit ihr zu sprechen? Wenn du dich damit nicht wohlfühlst, kann sie dich an einen anderen Psychoanalytiker verweisen. Auch an einen in D. C.“
Rain. Sie war die ganze Zeit über da gewesen, als Trevor auf der Intensivstation gelegen hatte. Sie hatte ihn jedes Mal beruhigt, wenn Panik ihn überfallen hatte. Viele Ereignisse in der letzten Woche waren undeutlich, doch die Sorge, die er in ihren bernsteinfarbenen Augen gesehen hatte, war eine lebendige und klare Erinnerung. Rain hatte es geschafft, mit ihm gemeinsam das Schlimmste zu überstehen – ungeachtet dessen, womit sie selbst hatte fertig werden müssen. Er hatte sich an ihr festgehalten, als alles andere um ihn herum außer Kontrolle geraten war.
„Ich werde mit ihr darüber reden“, versprach er leise.
Ihr vertrautes Beisammensein wurde gestört, als ein Pfleger mit einem Essenstablett hereinkam.
„Ist das zu glauben?“, schimpfte Annabelle. „Da verscheuche ich deine Besucher, und jetzt überanstrenge ich dich.“
Als der Pfleger das Zimmer wieder verlassen hatte, schob sie den Rolltisch zum Bett und hob den Deckel vom Tablett. Eine Schüssel mit gelber Nudelsuppe kam zum Vorschein, außerdem Wackelpudding, ein Brötchen mit einer abgepackten Portion Butter und ein Becher Eiscreme. „Die ‚Soft-Food-Diät‘. Wie geht es denn deinem Hals?“
„Als ob ich Rasierklingen geschluckt hätte.“ Er sah voller Geringschätzung auf das Essen. „Ich nehme das Eis. Den Rest kannst du zurück in den Korridor schieben.“
Annabelle half ihm, das Kopfende des Bettes zu verstellen, damit er aufrecht sitzen konnte. Dabei blieb ihr Blick an demgrünlichen Bluterguss unter seinem Schlüsselbein hängen, der aus dem Ausschnitt des Krankenhaushemdes hervorschaute.
„Ich kann nicht glauben, dass der Mann auf dich geschossen hat, bevor er mit dem Messer auf dich losgegangen ist“, sagte sie besorgt, während er den Deckel vom Eisbecher abzog. „Du bist wie eine Katze mit neun Leben, Trevor. Und ich fürchte, du hast den Überblick verloren, wie viele davon du schon verbraucht hast.“
Nachdenklich kratzte er mit dem Holzlöffel über das Eis, bevor er sprach. „Sawyer hat mir einen Job angeboten.“
Annabelle sah ihn verblüfft an. „Hier?
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