Nachts auf der Hexeninsel (German Edition)
Helen«, antwortete Letitia ausweichend.
»Das kommt noch. Setz dich zu mir. Ann, rück ihr einen Stuhl zurecht. Nimm meine Hand, Letitia. Es ist schön, dass du da bist. Auf dich habe ich lange gewartet.«
Ann trug einen Stuhl vom Tisch hinzu. Obwohl es Letitia grauste, musste sie darauf Platz nehmen. Die Mortons verehrten ihre Patriarchin. Wenn Letitia sie verärgert hätte, wäre es ihr übel bekommen.
Helens Hand kroch über die Armlehne des Stuhls auf Letitia zu wie ein Insekt. Letitia erschauerte. Wieder hatte sie den Eindruck von Hornhaut und Kälte, als Helen sie anfasste. Die Greisin lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Vielleicht funktionierte ihr Kreislauf nicht mehr richtig, und Hände und Füße wurden mangelhaft durchblutet, was die Kälte hervorrief.
»Ah, das tut gut«, murmelte Helen. Ann stand abwartend im Hintergrund, in respektvoller Haltung, selbstverständlich ohne Zigarette, und schwieg. »Ich spüre deine Wärme und die Kraft deiner Jugend, Letitia. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich selbst jung und stark war, voller Elan und Schwung. Es ist herrlich, einen jungen kräftigen Körper zu besitzen. Bald…«
Helen verstummte jäh. Sie atmete kaum merklich. Letitia glaubte schon, sie sei eingeschlafen, und warf Ann einen fragenden Blick zu, ob sie nicht bald diesen verdunkelten, überheizten, übelriechenden Raum verlassen könnte. Ann legte den Finger an die Lippen und schüttelte verneinend den Kopf.
Letitia ergab sich in ihr Schicksal, noch länger hier ausharren zu müssen. Sie schaute sich um. Jetzt betrachtete sie das Gemälde an der Wand genauer. Es zeigte eine blühende, dunkelhaarige junge Frau in einem altertümlichen Kleid. Sie war über und über mit Schmuck behängt und trug das Diadem, das Helen nun auf dem Kopf hatte. Ihr Gesichtsausdruck war hochmütig.
Sie stützte die Linke auf ein hochbeiniges Tischchen, auf dem eine Kristallschale mit nachtschwarzen Rosen stand. Letitia hatte noch nie zuvor schwarze Rosen gesehen. Die Augen der Frau auf dem Bild schienen sie anzuschauen.
Letitia wisperte leise zu Ann: »Ist das Helen auf dem Bild?« »Ja.«
Die Greisin öffnete die Augen. »Das bin ich.« Ihre Stimme klang wie das Rascheln trockener Blätter. »Bald werde ich wieder so sein. Bald…«
Letitia wollte der alten Teufelsanbeterin nicht widersprechen. Denn von Helen als Oberhaupt des Morton-Clans musste der Teufelsglaube ausgehen. Unter anderen Umständen hätte Letitia ihre Urgroßtante bedauert. Doch so vermochte sie kein Mitleid mit ihr zu empfinden.
»Es ist so.« Helen kicherte. »Was hast du heute noch vor, Mary? Nein, Letitia, wollte ich sagen.«
»Ich wollte nach Stornoway hinunter und mich ein wenig umsehen.« »Dann geh nur. Schau dich um.
Sprich mit den Leuten. Ich will dich nicht aufhalten. Vielen Dank für deinen Besuch. Wir sehen uns später.«
»Ja, Großtante Helen«, sagte Letitia und dachte: Nichts wie weg.
Sie stand auf und war froh, das Zimmer verlassen zu können. Eine Zentnerlast fiel ihr vom Herzen, als sie vor der Tür stand. Ann blieb noch fünf Minuten bei der alten Helen. Dann kam sie zu Letitia, die in der Halle wartete.
Es gab kein Auto im »Haus der sinkenden Sonne«. Weil Letitia von dem Frühstück noch satt war, hatte sie eine Ausrede, nicht wegen des Mittagessens bleiben zu müssen. Sie hatte ihre Handtasche schon geholt, in der sie ihre Ausweispapiere, die Geldbörse und einige Kosmetikartikel trug. Zu Fuß war es ziemlich weit ins Dorf hinunter.
Ann bot an, die Kutsche für Letitia anspannen zu lassen.
»Aber das ist doch nicht notwendig. Habt ihr nicht vielleicht ein Fahrrad für mich? Das würde völlig genügen.«
»Doch, sicher. Wenn du damit zufrieden bist.«
Letitia erhielt das Fahrrad eines Dienstmädchens und radelte durch das offene Tor und den Hohlweg nach Stornoway hinunter. Ich bin frei, jubelte Letitia innerlich. Ihr elenden Hexenweiber werdet mich nicht wiedersehen.
Ann schaute ihr nach. Ein böses Lächeln spielte um ihre knallrot geschminkten Lippen.
Sie murmelte: »Närrin.«
*
Letitia sauste den gewundenen Weg hinunter. Sie sah sich schon auf dem Fährschiff, das am Nachmittag wieder abfahren würde, und auf dem, Heimweg nach London. Von ihrer Verwandtschaft in Stornoway wollte sie nie wieder etwas wissen.
Letitia konnte jetzt verstehen, weshalb ihre Mutter Stornoway verlassen und ihr nie davon erzählt hatte. Mary Cabell, geborene Morton, hatte die Erinnerung an diesen Ort aus ihrem
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