Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
ihn auch nicht mehr sehen, sollte er irgendwann einmal hierher zurückkehren. Ein Hauch Wehmut glitt über Harris’ Gesicht, wenn er daran dachte, wie er sie heimlich beobachtet hatte. Einen mit Leinen bespannten Keilrahmen über den Knien, neben sich eine alte Werkzeugkiste und alles um sich herum vergessend, das war ihre Art zu malen gewesen. Ab und zu hatte ihre rechte Hand nach den wild verstreuten Farbtuben im Gras getastet, während die linke den Pinsel mit Leichtigkeit über das Leinen führte. Ja, er hatte sie geliebt, ohne sie zu kennen. Wie sollte er auch? Ihre Maske hatte sie nie abgelegt, und selbst wenn er eine leise Ahnung von dem bekommen hätte, was sich in ihrem Inneren abspielte, er hätte ihr nicht helfen können.
Das unechte Hüsteln in seinem Rücken kannte er schon. Harris brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Hauptkommissar Schneider hinter ihm stand. »Sie war eine schöne Frau. Schade um sie«, hörte er ihn sagen. Schneider legte im Vorbeigehen kurz seine Hand auf Harris’ Schulter, holte sich einen Eimer, der in der Nähe lag, stürzte ihn um und ließ sich darauf nieder.
»Was ist mit diesem Adam? Habt ihr ihn inzwischen gefunden?«, fragte Harris.
»Da war niemand. Es gibt keinen Adam, also gibt es auch keine Leiche. Das alles spielte sich nur in ihrer Wahnvorstellungab. In ihrem Zimmer in der Psychiatrie gab es auch so jemanden. Sie nannte ihn Philipp.«
»Ihr Bruder hieß so.«
Schneider nickte. »Haben Sie inzwischen ihre Freundin ausfindig machen können? Diese Nina von Treuenfeld?«
»Ja. Sie ist noch in New York, will sich aber melden, sobald sie wieder in Deutschland ist. Eines aber konnte sie mir gleich beantworten. Auf meine Frage, wann Alexandra hierhergezogen sei, antwortete sie: Anfang Juli. Als ich Alexandra das erste Mal sah, stand sie in dem Zug, der unser fünftes Opfer überfuhr. Das war am 14. September. Am 15., einem Sonntag, tauchte sie das erste Mal im Dorf auf und erzählte, dass sie gerade den alten Bahnhof bezogen hätte. Da wohnte sie allerdings schon seit zehn Wochen dort, und keiner hat’s mitbekommen. Stefanie Voigt, ihre Vormieterin, war ihr erstes Opfer.«
Fast andächtig hob Harris einen Pinsel auf, der zu seinen Füßen unter einem Grasbüschel lag. »Dann hat mich also mein Instinkt dieses Mal mächtig im Stich gelassen.«
»Scheint so«, sagte Schneider und erwiderte Harris’ Blick mit einem Grinsen. »Ja, das ist von Ihnen, das ist nicht aus meinem Sprachgebrauch.«
Harris spielte nachdenklich mit dem Pinsel in seiner Hand.
»Wie sind Sie darauf gekommen?«, fragte er.
»Das habe ich Ihnen zu verdanken. Eine der DNA-Spuren, die wir bei Claudia Bormann fanden und die wir bis dato nicht zuordnen konnten, befand sich auch am Schal von Nina von Treuenfeld. Hätten Sie ihn nicht eingetütet, wäre er nicht im Labor gelandet und wir wären nie darauf gestoßen. Aber dadurch meldete der Computer plötzlich eine Übereinstimmung. Und nicht nur mit einer DNA aus Claudia Bormanns Wohnung, sondern auch vom zweiten Tatort. Erst einmal sind wir davon ausgegangen, dass sich auf dem Schal nur Nina von Treuenfelds und Alexandras DNA befinden konnte.Eine der beiden Frauen konnte also unser Täter sein. Und da Sie eine Schlampe sind, Zimmering, und Ihr Büro nicht aufräumen, stand meine Kaffeetasse noch dort. Ich hatte Alexandra kurz zuvor dabei überrascht, wie sie aus Versehen aus meiner Tasse trank. Und bingo, dieselbe DNA!«
Harris schüttelte den Kopf.
»Woher wusste Alexandra von Roberts Vorliebe für Rothaarige? Also ich meine, wollte sie es ihm in die Schuhe schieben und suchte deshalb bewusst seine Affären aus?«
»Das ist so was wie ein unglücklicher Zufall. So viele Rothaarige gibt es nun mal nicht. Robert liebte sie, Alexandra hasste sie. In ihren Augen waren sie wie sie selbst. So sind die beiden mehr oder minder zufällig auf ein und denselben Personenkreis gestoßen. Ich gehe davon aus, dass Sie ihr eine Menge über den Fall erzählt haben. Ab Opfer Nummer sechs, also Theresia, hat es Alexandra dann bewusst so arrangiert, dass wir auf Robert aufmerksam wurden. Das Shirt gehörte ihm tatsächlich nicht, sie hat es in seinem Müll deponiert.«
»Clever.«
»Und perfide. Denn als sie davon hörte, dass wir Dirk verdächtigen, deponierte sie nach dem Mord an Claudia Bormann die schwarze Perücke in der Autowerkstatt.«
»Und die Mordwaffe?«
»Ein Skalpell, das sie ständig bei sich trug.«
Mit einem lauten Krachen
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