Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
und ein Stück blauer Himmel spiegelte sich in einem der Fenster. Fasziniert und vollkommen bewegungslos, als befürchte sie, das Bild zu zerstören, verharrte Alexandra auf ihrem Platz und beobachtete das Spiel des Sonnenlichts auf der Hausmauer. Obwohl sie es immer wieder versucht hatte, war es ihr nie gelungen, Licht in ihren Bildern einzufangen. Vielleicht lag es daran, dass bisher endlose, kalte Häuserschluchten zu ihren bevorzugten Motiven gehörten, vielleicht war es aber auch einfach nur Unvermögen. Möglicherweise würde das Leben in der Natur ihren Stil ein für alle Mal ändern. Beseelt von dieser Hoffnung rannte Alexandra ins Haus, um kurz darauf, einen mit Leinen bespannten Rahmen unter dem Arm, in der anderen Hand eine Werkzeugkiste mit Farbtuben, wieder nach draußen zu eilen. Im Nu hatte sie die Farben auf die Palette aufgebracht, verzichtete auf die Staffelei, sondern legte den Keilrahmen quer über die Knie und begann zu malen. Aus Angst, das Schauspiel auf der Hausmauer könnte abrupt enden, malte sie so schnell und leicht wie noch nie zuvor. Ihr Blick wechselte in Sekundenschnelle zwischen Wand und Leinen, und ihre Hand führte den Pinsel wie von selbst. Der Bann schien endlich gebrochen.
6.
Paul hatte an diesem Sonntagabend alle Hände voll zu tun und war heilfroh, dass Theresia Hoefling, die zwanzigjährige Tochter einer kürzlich zugezogenen Familie, in solchen Fällen als zusätzliche Bedienung aushalf. Außerdem steigerte sie durch ihr auffallend gutes Aussehen und ihre Vorliebe für extrem kurze Röcke eindeutig den Umsatz. Sie war schlank, besaß einen makellosen Teint, hatte lange blonde Haare, die sie zum Zopf geflochten trug, und verfügte, trotz ihrer Jugend, nicht nur über eine gewisse Reife, sondern auch über eine erstaunliche Schlagfertigkeit. Selbst Paul zog im Wortgefecht mit ihr oftmals den Kürzeren, was ihn zwar für den Moment verärgerte, jedoch nicht davon abhielt, ihr kurz darauf für den Abend seinen Chefposten zu überlassen. Ermöglichte es ihm doch, das eine oder andere Bier zu trinken und den Abend einmal ganz entspannt zu verbringen.
Die Dorfjugend war nach einem verlorenen Fußballspiel gegen den Nachbarort schon am Nachmittag in Pauls Kneipe eingefallen und ertrank ihren Frust nun lautstark im Alkohol. An den vollbesetzten Tischen ging es inzwischen hoch her.
Der Stammtisch blieb dennoch den Alteingesessenen vorbehalten, die daran fast jeden Abend in mehr oder weniger gleicher Runde Skat spielten. Harris Zimmering, Robert Schumann, ein knapp dreißigjähriger Raufbold, dessen jüngerer Bruder Dirk und Tobias Krüger, dem seine Schüchternheit ins Gesicht geschrieben stand.
Zufrieden verfolgte Paul mit seinem Blick Theresia, die sich trotz des vollbeladenen Tabletts mit einem freundlichen Lächeln zwischen den Tischen hindurchschlängelte und derbeMännerwitze prompt konterte. Insgeheim bewunderte er die zierliche Frau für die Kraft, acht Bierhumpen am ausgestreckten Arm über dem Kopf zu balancieren.
»Vier Wochen Oktoberfest ist besser als jedes Fitnessstudio!«, hatte Theresia ihm gleich zu Anfang in breitem Bayrisch erklärt. Die ehemalige Münchnerin war vor einem halben Jahr mit ihren Eltern hierhergezogen, um eine Gastwirtschaft im Nachbarort Stolzenhagen zu betreiben. Paul, der anfänglich Konkurrenz befürchtete, war schnell besänftigt, als Theresia ihm schon nach kurzer Zeit ihre Hilfe anbot, denn der elterliche Laden lief schlechter als erwartet. Außerdem war sie inzwischen bis über beide Ohren in Robert Schumann verknallt und arbeitete am Abend lieber hier. Paul bezweifelte zwar, dass Theresias Wahl auf den Richtigen gefallen war, denn Robert galt als jähzornig und arrogant, aber sein Aussehen machte ihn für Frauen zum begehrten Objekt. Groß und breitschultrig, mit leicht gewellten, kohlrabenschwarzen Haaren und unergründlich dunklen Augen, war er rein äußerlich der Frauenschwarm schlechthin.
Ein junger Fußballspieler zog Theresia gerade auf seinen Schoß und küsste sie ungestüm. Jede andere hätte ihm sofort eine Ohrfeige verpasst. Theresia hingegen wand sich lachend aus seinen Armen, zog ihm sein Basecap bis zur Nase hinunter und ging dann lächelnd davon.
Paul registrierte zwar Roberts finsteren Blick, hielt ihn aber für vernünftig genug, sich wegen dieses derben Spaßes nicht mit einer betrunkenen Elfermannschaft anzulegen. Schnell goss Paul fünf Schnäpse in die Gläser und brachte sie an den Tisch der Skatrunde.
»Das
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