Nachts kommt die Angst: Psychothriller (German Edition)
Haus betreten, als sie das Anspringen des Motors hörte. Harris Zimmering musste sein Auto, um sich unbemerkt anschleichen zu können, in einiger Entfernung geparkt haben. Nun trug der Wind das Motorengeräusch zu ihr herüber. Erfreut machte sie kehrt und folgte dem Geräusch. Obwohl es an Lautstärke zunahm, war der Standort des Autos nicht auszumachen.
Vollends irritiert blieb Alexandra unweit des Obstbaumes, unter dem sie in der Nacht zuvor die Äpfel aufgesammelt hatte, stehen und erkundete mit den Augen sorgfältig die Umgebung. Fast musste sie lächeln, als sie plötzlich ihren Herzschlag hörte. Was, um alles in der Welt, war in sie gefahren? Entgegen jeder Vernunft war sie ihm nachgelaufen und hoffte nun, ihn noch einmal zu sehen. Wie albern, stellte sie belustigt fest. Sie war dreißig, frisch getrennt und im Grundezu jedem Abenteuer bereit, bis auf eines! Eine neue Beziehung! Was sie suchte, waren Ruhe und Zeit.
»Du klingst, als gingst du in Rente«, hatte Nina sie aufgezogen und war über Alexandras Reaktion sehr erstaunt gewesen.
»Nenn es, wie du willst! Rente, Ruhestand, Flucht. Ich brauch einfach mal Zeit für mich! Sieh mich doch an! Meine Bilder verkaufen sich nicht, mein Freund tauscht mich gegen eine Jüngere, mein Bankberater weiß nicht, wobei er mich beraten soll, und ich habe seit einem halben Jahr keinen Pinsel mehr in die Hand genommen!«
Alexandra stand mitten auf dem Weg, während sie all das dachte, bewegungslos, mit hängenden Schultern und leicht zerknirschtem Gesichtsausdruck. Das Aufheulen des Motors holte sie in die Gegenwart zurück. Sie bemerkte die Bodenerhebung erst, als sich das Heck des Polizeiwagens hinter dem grasbewachsenen Hügel hervorschob und der Wagen rückwärts auf sie zugefahren kam. Alexandra setzte ein charmantes Lächeln auf und schlenderte betont gelassen dem Auto entgegen.
Harris Zimmering saß, eine brennende Zigarette lässig im Mundwinkel und den linken Arm im offenen Fenster abgelegt, hinter dem Lenkrad. Eine dunkle Sonnenbrille verdeckte seine Augen. Er bewegte sich nicht, hielt den Blick geradeaus gerichtet und sprach mit leiser Stimme.
»Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, bleiben Sie besser nicht hier wohnen!«
Er fuhr los, ohne sie noch einmal anzusehen.
Alexandra hatte den Nachmittag damit verbracht, den Hausflur leer zu räumen, ihre eigenen Möbel provisorisch auf die renovierten Zimmer zu verteilen und das gesamte untere Stockwerk von Schmutz und Mäusekot zu befreien. Vorsorglich hatte sie alle Schränkchen, jede Kommode und sogar gepolsterteStühle vor dem Anheben mit einem langen Stock geöffnet oder abgeklopft, da sie in jedem Winkel mindestens eine sprungbereite Maus vermutete.
Währenddessen geisterte Harris Zimmerings Satz in ihrem Kopf umher. Wie auch immer man ihn interpretierte, eine sinnvolle Erklärung fiel ihr nicht ein.
Von oben bis unten eingestaubt saß sie nun auf einer alten Gemüsekiste vor dem Haus und besah zufrieden ihr Werk. Auch wenn sich der Unrat nun in der Scheune türmte, er war aus ihrem Blickfeld, und das machte es ihr leicht, ihn fortan zu ignorieren.
Nachdenklich betrachtete sie das Haus. Den Charme alter Gemäuer besaß es nicht, dazu war es nicht alt genug, auch hatte es keine außergewöhnliche Architektur oder zumindest etwas, was auf verschiedene Bauepochen oder unterschiedliche Geschmäcker jeweiliger Bewohner schließen ließ. Es war einfach nur ein Haus, vier Mauern mit einem Dach, zu groß für eine Person, zu klein für eine Familie. Wenn sie davon absah, was die Leute redeten, war es für ihre Zwecke der perfekte Platz, obgleich sie daran zweifelte, dass es möglich war, es noch vor Wintereinbruch derart instand zu setzen, dass sie sich dort zu Hause fühlte. Alexandra blies verächtlich die Luft durch die Lippen. Zu Hause! Zu Hause war man an dem Ort, an dem man geliebte Menschen um sich hatte oder sich aus anderen Gründen wohl fühlte. Die Menschen, die sie geliebt hatte, waren unerreichbar weit weg. Was blieb, war sie selbst, und vielleicht bestand darin ihre einzige Chance. Ihre Vergangenheit hatte sie wie etwas Lästiges und Nutzloses in Frankfurt zurückgelassen. Mehr noch, sie hatte sie weggesperrt, und wenn die Möglichkeit bestünde, sähe sie sie am liebsten auf dem Grund des Ozeans.
Inzwischen stand die Sonne so tief, dass sie nur noch partiell durch die eng stehenden Bäume brach. Die alten Tonziegel, die hier und da unter dem Putz hervorschauten, schimmertennunmehr fast golden,
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