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Nachts

Nachts

Titel: Nachts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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die Opfer der Alzheimerschen Krankheit immer jünger wurden. Viel
    leicht war der ganze Zwischenfall ein Anzeichen für schleichende, vorzeitige Senilität.
    Eine unangenehme Reklametafel füllte sein Denken aus, eine Reklametafel, auf der drei Worte mit fettigen, wie rote Lakritze ge
    färbten Buchstaben geschrieben standen. Diese Worte lauteten: ICH VERLIERE MEINEN VERSTAND.
    Er hatte ein gewöhnliches Leben voll gewöhnlicher Freuden und gewöhnlicher Sorgen gelebt; ein ziemlich unscheinbares Leben. Si
    cher, er hatte seinen Namen nie in den Schlagzeilen gesehen, aber er hatte auch noch nie Grund gehabt, an seiner geistigen Gesund
    heit zu zweifeln. Und nun lag er in seinem zerwühlten Bett und fragte sich, ob man so seinen Abschied aus der wirklichen, ver
    nünftigen Welt nahm. Ob es so anfing, wenn man DEN VERSTAND VERLOR.
    Der Gedanke, der Engel des Obdachlosenasyls von Junction City könnte Naomi sein Naomi mit einem Pseudonym , war ebenfalls ein irrsinniger Einfall. Das konnte einfach nicht sein oder do ch?
    Er fing sogar an, den plötzlichen Aufschwung seines Geschäfts in Zweifel zu ziehen. Vielleicht hatte er Halluzinationen gehabt und sich die ganze Sache nur eingebildet.
    Gegen Mitternacht schweiften seine Gedanken zu Ardelia Lortz ab, und da wurde es dann echt schlimm. Er dachte, wie schrecklich es wäre, wenn Ardelia sich in seinem Schrank verstecken würde oder gar unter seinem Bett. Er sah sie vor sich, wie sie im Dunkeln heimlich und glücklich grinste und das Gesicht zu einer unheimlichen furchteinflößenden Maske verzerrte. Er stellte sich vor, wie seine Knochen sich in Gallerte verwandeln würden, wenn sie anfing, ihm etwas zuzuflüstern.

    Sie haben die Bücher verloren, Sara, also muß der Bibliothekspolizist kommen Sie haben die Bücher verloren Sie haben sie verlooooo
    ren
    Schließlich, gegen halb eins, hielt Sam es nicht mehr aus. Er setzte sich auf und tastete in der Dunkelheit nach dem Nachttischlämpchen. Und dabei überkam ihn ein neues Hirngespinst, so lebensecht, daß es beinahe an Gewißheit grenzte: Er war nicht allein in seinem Schlafzimmer, aber der Besucher war nicht Ardelia Lortz.
    O nein. Sein Besucher war der Bibliothekspolizist von dem Plakat, das nicht mehr in der Kinderbibliothek hing. Er stand hier im Dunkeln, ein großer, blasser Mann im Trenchcoat, ein Mann mit pickeliger Gesichtshaut und einer weißen, gezackten Narbe auf der linken Wange, unter dem linken Auge und über dem Nasenrücken.
    Diese Narbe hatte Sam auf dem Gesicht des Plakats nicht gesehen, aber nur deshalb nicht, weil der Künstler sie nicht abgebildet hatte.
    Trotzdem war sie da. Sam wußte, daß sie da war.
    Mit den Büsssen hassst du dich geirrt, würde der Bibliothekspolizist mit seiner leisen Lispelstimme sagen. Es wachsssen Büssse an den Sseiten. Viele Büssse. Und wir werden sssie erforsssen. Wir werden sie gemeinsam erforsssen.
    Nein! Aufhören! BitteAUFHÖREN!
    Als seine zitternde Hand schließlich das Lämpchen ertastet hatte, quietschte eine Bodendiele im Zimmer, worauf Sam einen atemlosen leisen Schrei ausstieß. Er verkrampfte die Hand um den Schalter. Das Licht ging an. Einen Augenblick glaubte er den gro
    ßen Mann sage und schreibe zu sehen, doch dann merkte er, daß es nur ein Schatten war, der an die Wand neben die Kommode geworfen wurde.
    Sam schwenkte die Füße aus dem Bett und verbarg das Gesicht einen Moment in den Händen. Dann griff er nach der Packung Kent auf dem Nachttisch.
    »Du mußt dich zusammenreißen«, murmelte er. »Verdammt, was hast du dir gedacht?«
    Ich weiß nicht, antwortete die Stimme in ihm wie aus der Pistole geschossen. Und überhaupt will ich es gar nicht wissen. Nie. Das mit den Büschen ist schon lange her. Ich muß mich nie wieder an die Büsche erinnern.
    Oder an den Geschmack. Diesen süßlichen, süßlichen Geschmack.
    Er zündete eine Zigarette an und inhalierte tief.
    Das Schlimmste war: Nächstesmal sah er den Mann im Trenchcoat vielleicht wirklich. Oder Ardelia. Oder Gorgo, Hochkaiser von Pellucidar. Denn wenn es ihm gelungen war, eine lückenlose Halluzination wie den Besuch in der Bibliothek und seine Begegnung mit Ardelia Lortz zu erschaffen, konnte er alles halluzinieren. Wenn man anfing, über Oberlichter nachzudenken, die gar nicht da waren, und Menschen, die gar nicht da waren, schien alles möglich.
    Wie konnte man einer Rebellion im eigenen Verstand Herr werden?
    Er ging in die Küche hinunter, schaltete auf dem Weg alle Lichter ein und

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